
Contact Tracing: Im Kampf gegen das Coronavirus droht ein Software-Chaos – Kantone sind sich uneinig
Wenn sich Carla Schaubhut, eine junge Ärztin aus Basel, an die Arbeit macht, dann streift sie sich in diesen Tagen keinen weissen Kittel über. Stattdessen setzt Schaubhut ein Headset auf. Dann ruft sie an diesem Morgen einen jungen Mann an, der am Vortag erfahren hat, dass er an Covid-19 erkrankt ist. Und macht sich auf die Fersen des Virus.
Schaubhut hat Medizin studiert, seit bald einem Jahr ist sie beim Gesundheitsdepartement der Stadt Basel tätig, Abteilung Sozialmedizin. Vor ein paar Wochen, als das Coronavirus die Schweiz überrollte, verwandelte sie sich in eine Detektivin. Mehr oder weniger über Nacht wurde das Contact Tracing zum Gebot der Stunde: Infizierte ausfindig machen. Ihre Kontaktpersonen eruieren. Sie isolieren. Und so die Verbreitung des Virus eindämmen.
Mit den Lockerungen gewinnt Contact Tracing an Bedeutung
Schaubhut und ihre Teamkollegen arbeiteten damals bis tief in die Nacht. Spannend sei das gewesen, aber auch sehr anstrengend, sagt die Baslerin, «Epidemiologie live, wenn man so will.» Doch irgendwann war klar, dass es gegen das Virus kein Ankommen gibt, so rasend schnell verbreitete es sich. Die Fallzahlen waren schlicht zu hoch. Basel musste die Kontaktsuche aufgeben, so wie das fast die ganze Schweiz tat. Das Land sah im Kampf gegen das Virus keinen anderen Ausweg, als sich selbst lahmzulegen, vorübergehend zumindest.
Doch damit ist es nun allmählich vorbei. Schon vorletzte Woche hat sich die Schweiz ein wenig geöffnet, und am Montag machen auch Schulen, Geschäfte und Restaurants wieder auf. Damit rückt auch das Contact Tracing wieder in den Vordergrund. Es ist der zentrale Pfeiler der Eindämmungsstrategie des Bundes. Ab Montag soll jeder Infizierte entdeckt, jede Kontaktperson in Quarantäne gesteckt werden. Und so das Virus unter Kontrolle bleiben. Es geht nun darum, zu verteidigen, was der teilweise Lockdown gebracht hat. Erledigen müssen diese riesige Aufgabe die Kantone. Und dort Frauen und Männer wie Carla Schaubhut.
Die sitzt an ihrem Pult in einem hellen Büro im Basler Gesundheitsdepartements, auf einem Gestell steht eine Flasche Desinfektionsmittel. «Wissen Sie, wo Sie sich angesteckt haben», fragt Schaubhut den jungen Mann. Er weiss es: im Militär. Symptome, berichtet er, habe er keine. Dann erfragt Schaubhut die engen Kontakte des jungen Mannes, jene also, die in Quarantäne müssen. Es gibt nur einen einzigen, seine Freundin, doch das liegt vor allem an den Kriterien, die derzeit noch angewandt werden: Als enger Kontakt gilt nur, wer mit Coronainfizierten oder Verdachtsfällen zusammenlebt oder intimen Kontakt hatte.
Ab Montag sind die Kriterien andere, viel weitere: Jeder, der in den 48 Stunden vor dem Auftreten der Symptome während mehr als 15 Minuten mit weniger als zwei Metern Abstand Kontakt mit dem Infizierten hatte, gilt als enger Kontakt. Das klingt kompliziert, doch in der Praxis bedeutet es, dass die Zahl der Personen, die kontaktiert und in Quarantäne gesetzt werden müssen, rasant ansteigt.
Der Bund rechnet mit 20 solchen Kontaktpersonen pro Coronainfiziertem, und eine kleine Rechnung zeigt, was das für die Contact Tracer in den Kantonen bedeutet: Wenn täglich ein neuer Fall auftritt, müssen sie im Schnitt 20 Personen ausfindig machen. Sie kontaktieren. In Quarantäne bringen. Und danach täglich nach ihrem Gesundheitszustand fragen, um beim Auftreten von Symptomen umgehend einen Coronatest zu veranlassen – und bei einem positiven Test wiederum die engen Kontakte ausfindig zu machen. Nach einer Woche sind das schon bei einem positiven Fall pro Tag 140 Personen, die es im Auge zu halten gilt.
Lungenliga, Hausärzte, Zivis: die Kantone haben viele Rezepte
Ist das überhaupt zu machen, falls die Fallzahlen wegen der Lockerungen bald wieder anziehen sollten? Die Frage geht an Simon Fuchs, einen Enddreissiger mit sanfter Stimme. Fuchs ist stellvertretender Basler Kantonsarzt und Leiter des Contact-Tracing-Teams. Er sagt, sein Kanton könne fünf neue Fälle pro Tag bewältigen, wobei er von lediglich 10 engen Kontaktpersonen ausgeht, die in Quarantäne müssten. Das ergibt 450 Personen, die es täglich zu kontaktieren gilt.
«Das würden wir hinkriegen», sagt Fuchs, «wenn die Fallzahlen deutlich höher werden, müsste man wieder in andere Richtungen denken». Andere Richtungen, das könnte heissen: neue Einschränkungen. Eine Rückkehr in den teilweisen Lockdown. Zwölf Vollzeitstellen kann Fuchs in Basel-Stadt in kurzer Zeit für das Contact Tracing bereitstellen, sofern das nötig ist. Er greift dafür auf andere Dienststellen in seinem Amt zurück, dazu kann er auch Leute kurzfristig einstellen.
Wenn man sich in den 26 Kantonen umhört, wie sie umgehen wollen mit dem Contact Tracing, dieser riesigen Aufgabe, von der bald sehr vieles abhängen wird, dann stösst man auf viele verschiedene Rezepte. Es gibt Kantone, deren Gesundheitsämter alles selbst erledigen wollen. Andere arbeiten mit der Lungenliga zusammen, mit dem Zivilschutz oder Hausärzten. Der Kanton Zürich will auch auf speziell ausgebildete Polizisten zurückgreifen, falls das nötig wird.
Wie viele Contact Tracer in den Kantonen tatsächlich bereitstehen, ist aufgrund der verschiedenen Modelle schwierig zu eruieren. Doch naturgemäss ist die Bandbreite gross. Kleine, ländliche und oft wenig betroffene Kantone stellen sich anders auf als solche mit einer grossen und hochmobilen Bevölkerung. Viele Kantone betonen, dass man bereit sei und seine Ressourcen bei Bedarf ausbauen könne. Auch das Bundesamt für Gesundheit schreibt auf Anfrage, man denke, dass die Kantone gerüstet seien für das Verfolgen der Infektionsketten.
In Basel wird Carla Schaubhut von einer Software durch ihr Telefongespräch geleitet. Das Programm ist brandneu, auch eine App gehört dazu. Wer will, kann seinen Gesundheitszustand aus der Quarantäne täglich mit ein paar Wischern über das Smartphone ins Gesundheitsdepartement schicken. In Basel hoffen sie, dass ihnen das Programm den Rücken freihält, falls die Fallzahlen wieder ansteigen.
Später am Tag ruft Schaubhut die Freundin des infizierten Soldaten an. Teilt ihr mit, dass sie nun in Quarantäne müsse, zehn Tage lang. Am Ende speichert das Programm ihren Namen auf eine Liste ab, die gerade nicht sehr lang ist. In Basel hofft man wie überall in der Schweiz, dass es so bleibt.
Keine einheitliche Software in Sicht
Contact Tracing ist auch eine logistische Herausforderung. Es gilt selbst in kleinen Kantonen schnell einmal, Dutzende von Kontaktpersonen zu verwalten. Die wissenschaftliche Covid-19-Task-Force des Bundes schreibt, für das Contact Tracing seien massgeschneiderte Informationssysteme notwendig, die den Austausch von Daten ermöglichen. Der Hintergrund: wenn etwa der Kanton St. Gallen die Kontaktpersonen eines Corona-Infizierten ermittelt und dabei auf Personen stösst, die in einem anderen Kanton leben, so ist das dortige Gesundheitsdepartement für deren Betreuung verantwortlich.
Eine gemeinsame Software, die in allen Kantonen bei der Verwaltung von Corona-Infizierten und deren Kontaktpersonen benutzt wird, würde den Austausch entsprechender Daten erleichtern – gerade jetzt, wo das Contact Tracing wieder hochgefahren wird. Aus diesem Grund ist etwa der grösste Schweizer Kanton, Zürich, für eine IT-Lösung, die schweizweit möglichst schweizweit verwendet wird.
Allerdings spricht wenig dafür, dass es so weit kommt. Das zeigt eine Umfrage bei den Kantonen. Während die einen noch mit Excel-Tabellen arbeiten, sind andere vorgeprescht und haben neue Software beschafft. Basel-Stadt und Graubünden haben sich für eine Lösung von KPMG entschieden. Der Kanton Waadt schreibt, man plane, auf Godata, ein Tool der Weltgesundheitsorganisation WHO, umzusatteln. Beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) heisst es, man habe die Frage einer gemeinsamen Software-Lösung mit den Kantonen besprochen. Diese hätten sich aber nicht einigen können.
Das BAG und die Gesundheitsdirektoren wollen sich nächste Woche an einem Treffen darüber austauschen, wie der Bund die Kantone beim Contact Tracing unterstützen kann. Dabei soll es auch um finanzielle Fragen gehen. Tobias Bär, der Sprecher der Gesundheitsdirektorenkonferenz, sagt auf Anfrage, die System-Entscheidung liege bei den Kantonen. Man verzichte auf eine Empfehlung, würde es aber begrüssen, «wenn sich möglichst viele Kantone auf ein System einigen könnten». (dow)