
Alkoholiker haben es schwer im Lockdown – nun finden die Treffen im Netz statt
Wer schon davor ein Alkoholproblem hatte, der könnte nun mehr trinken. Das fürchtet die Organisation Sucht Schweiz. In einer Mitteilung gestern schrieb sie, der Alkoholkonsum werde zwar in der Krise generell zurückgehen, weil man sich weniger trifft – jedoch nicht bei den Alkoholikern. Sie könnten bei Stress und ohne die normalen Alltagsstrukturen nun vermehrt trinken. Gleichzeitig sind Behandlung und Beratung via Telefon weniger wirkungsvoll.
Einer, der es schon geschafft hat, ist Beat Schaffner. Doch auch ihm machte der Lockdown zu schaffen, weil die Treffen der Anonymen Alkoholiker (AA) zuerst abgesagt wurden.
Mit 46 zum ersten mal Selbstmord-Gedanken
Die Episode ist 26 Jahre her. Und Schaffner dürfte die Geschichte tausendfach erzählt haben. Noch heute trägt er sie ein bis zweimal pro Woche vor. Beat Schaffner nennt sich noch immer Alkoholiker, auch wenn er das letzte Glas Wein im August 1994 getrunken hat. Damals besuchte er seine erste Sitzung der Anonymen Alkoholiker. Er habe gedacht, Alkoholiker seien verwahrloste Menschen, sagt Schaffner. Doch er merkt: Die Leute in der Runde sind höflich, gut angezogen, freundlich. Und das Wichtigste: «Niemand hat geschimpft mit mir.»
In der Sitzung lässt Schaffner kein Detail aus. Wie er mit 18 die ersten Abstürze hatte, wie das Trinken mit der Zeit zum treuen Begleiter wurde. Zum Mittag Bier, beim Abendessen Rotwein, zum Dessert einen eisgekühlten Williams, in der Beiz eine Stange nach der anderen. Schaffner arbeitete in der Informatik, irgendwann meldete er sich jeden zweiten Tag krank, weil ihm beim Aufstehen kotzübel war. Seine Depressionen nahmen ihn mehr und mehr ein. Gegenüber Freunden verschwieg Schaffner seinen Konsum, er belog andere, am meisten sich selbst. «Ich hatte nie das Bedürfnis verspürt, mir Hilfe zu holen», sagt Schaffner. Bis zum Tag, als er alleine am See sass.
Die Treffen waren wichtig in Schaffners Leben
Seither vergeht keine Woche, an dem Schaffner nicht mindestens bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker dabei ist. Der 72-Jährige lebt abstinent, den Austausch aber braucht er. «Damit ich nie vergesse, wer ich einmal war.»
Am 16. März in diesem Jahr aber verkündet der Bundesrat die ausserordentliche Lage und beschliesst ein Versammlungsverbot. Schaffner schluckt leer. Vorerst gibt es keine AA-Treffen mehr. Schaffner macht ausnahmsweise bei den NA in Zürich mit, den Narcotics Anonymous, eine Gruppe für generelle Süchte, die schon länger Online-Meetings macht. Einige Tage nach der Verkündung des Lockdowns stellen auch die AA auf digitale Sitzungen um. Schaffner ist erleichtert.
Viele der Online-Meetings werden geschlossen abgehalten. Es gibt aber auch offene Runden, in denen sich jeder via Skype, Zoom oder Webex einloggen kann. Wer sich äussern will, streckt auf. Wer nichts sagen mag, stellt die Kamera ab. In seiner Gruppe in Zürich nehmen jeweils zehn bis zwölf Leute teil, sagt Schaffner.
Mehr neue Teilnehmer im Lockdown
Viele kennen sich seit Jahren, immer häufiger schalten sich aber auch Neue dazu. Gerade jetzt, wo alle Beizen geschlossen sind, steigt die Nachfrage. Für die Neuen sei es nicht einfach, sagt Schaffner. Und: «Die Hemmschwelle, über seine Sucht zu sprechen, ist grösser, wenn man nicht in einem Raum zusammen sein kann.» Schaffner selbst hält die Online-Meetings für eine gute Alternative, auch wenn sie die realen Treffen nicht ersetzen. Er kann es kaum erwarten, wenn er bald wieder ins Lokal an der Zürcher Cramerstrasse gehen darf. Im Restaurant danach tauscht er sich dann jeweils mit ein paar Kollegen der AA aus. Und bestellt seine drei Deziliter Cola.