
Risiko und Verwirrung im Tor des FC Aarau
Wer hütet beim Rückrundenauftakt das Tor? Nach dem Abschlusstraining am Freitagnachmittag lautet die Antwort: Nicholas Ammeter. So weit, so unspektakulär – Ammeter ist seit Beginn der Saison Stammgoalie des FC Aarau.
Doch dem Okay von Ammeter selbst und jenem der medizinischen Abteilung ging eine Woche des Zitterns voraus. Zur Erinnerung: Ammeter reiste vor zehn Tagen mit Fussschmerzen aus dem Trainingslager in der Türkei ab. Die Zwangspause wurde nötig, weil das Risiko eines Ermüdungsbruchs bestand.
Das erste Mal regulär trainiert hat Ammeter seither erst wieder am Donnerstag dieser Woche. Kein Problem, versucht man von FCA-Seite zu beruhigen. Logisch, dass der Klub dem jungen Goalie den Rücken stärkt und darauf bedacht ist, im Vorfeld des Spiels der Goaliefrage kein Gewicht zu geben. Dabei birgt die Angelegenheit Brisanz, es stellen sich Fragen: Wie fit ist Ammeter wirklich? Kann er im Spiel die Schmerzen, die kleiner geworden, aber nicht verschwunden sind, ausblenden? Will er seinen Einsatz erzwingen, weil er um den Status als Nummer 1 fürchtet?
Ohne zuvor ein Spiel auf Profiniveau absolviert zu haben, wurde Ammeter zu Beginn dieser Saison Stammgoalie. Den Skeptikern antwortete er mit einer bärenstarken Leistung beim Debüt in Winterthur (1:1). Im weiteren Verlauf der Vorrunde schlichen sich zwar einige Wackler ein, insgesamt aber gewann Ammeter an Sicherheit und Ausstrahlung. Gar herausragend ist seine Ballbehandlung mit dem Fuss, heutzutage für Goalies ein wichtiges Gütesiegel. Dann folgte das letzte Spiel vor der Winterpause gegen Chiasso, in dem Ammeter mit einem Fehler beim Herauslaufen den Last-Minute-Ausgleich zum 3:3 verschuldete.
Abenteuerliche Strategie auf einer Schlüsselposition
FCA-Trainer Patrick Rahmen verlässt sich bei der Frage, ob Ammeter für den Rückrundenstart fit ist, auch auf die Selbsteinschätzung des Spielers. Der 19-jährige ist in Sachen Reife vielen Gleichaltrigen voraus, aber klar ist auch: Um freiwillig auf einen Einsatz zu verzichten, müssten die Schmerzen schon horrend sein. Eine Weisheit besagt: Der erste Eindruck zählt, aber der letzte bleibt. Logisch, will Ammeter den Fauxpas gegen die Tessiner so schnell wie möglich vergessen machen. Ammeter ist ehrgeizig und will seinen Status als Nummer 1 unbedingt verteidigen, obwohl ihm Rahmen versicherte, bis Ende Saison nicht an der Goaliehierarchie zu rütteln. Und nicht zuletzt will Ammeter der sportlichen Leitung beweisen, dass er auch der richtige Goalie ist für die Mannschaft, mit der Aarau im Fall einer Super-League-Vergrösserung in der nächsten Saison aufsteigen will.
Ammeter also wird, geschieht nichts Unvorhersehbares, gegen Stade Lausanne-Ouchy im Tor stehen. Doch was, wenn er nicht rechtzeitig fit geworden wäre? Vorwarnung: Jetzt wirds kompliziert.
Der etatmässige Ersatz heisst Marvin Hübel. Mit erst 16 Jahre ist er der jüngste Goalie in den Kadern der 20 Schweizer Profiklubs. Auf Hübel hält man FCA-intern so grosse Stücke, dass man ihn bereits im Sommer zum Stellvertreter Ammeters machte. Wegen muskulärer Probleme kam Hübel für die Partie gegen Stade Lausanne-Ouchy jedoch nicht in Frage.
Aber: Im Fall eines Ammeter-Ausfalls hätte gegen den Aufsteiger auch der offizielle Torhüter Nummer drei, Anthony von Arx, nicht gespielt. Obwohl der 18-Jährige in der Vorrunde 13 Mal auf der Ersatzbank sass, da Hübel zwecks Spielpraxis bei der U18 weilte.
Die Ammeter-Alternative hiesse Joël Bonorand: Der 17-Jährige ist neben Ammeter und Hübel der dritte Goalie, der in den vergangenen Jahren im Nachwuchs zum vielversprechenden Talent gedieh. In Sachen «Goalietalente» hat der FC Aarau definitiv ein Luxusproblem, da nur einer bei den Profis spielen kann, aber in diesem Alter alle drei spielen müssen, um die Entwicklung nicht zu gefährden.
Bonorand holt sich seine Spielpraxis seit Sommer in der 1. Liga beim FCA-Partnerklub Baden. Er wäre heute aber nur ans Spiel gegen Stade Lausanne-Ouchy gereist, falls Ammeter hätte passen müssen. Nun sitzt doch von Arx auf der Bank, während Bonorand mit Baden ein Testspiel absolviert.
Von Arx, 18 und ebenfalls ehemaliger FCA-Junior, wurde im vergangenen Sommer als Mann für die Ersatzbank zurückgeholt, damit Hübel (U18) und Bonorand (Baden) in anderen Teams zu Spielpraxis kommen. Anders gesagt: Mit von Arx hat der FC Aarau einen Goalie in seinen Reihen, der für Ernstkämpfe nicht in Frage kommt. Eine gelinde gesagt spezielle Kaderplanung. Wo gibt es das sonst bei einem ambitionierten Profiklub? Neben der Jugendlichkeit des Torhüter-Quartetts (19, 18, 17 und 16 Jahre alt) ist es von Arx‘ Rolle, welche die Strategie auf dieser Schlüsselposition abenteuerlich erscheinen lässt.
Naheliegender wäre gewesen, das für einen Feldspieler ausgegebene Geld stattdessen in einen erfahrenen Stellvertreter für Ammeter zu finanzieren. Einen, der seine Ersatzrolle akzeptiert, den man jedoch jederzeit bedenkenlos einsetzen könnte. Der Vorteil: Hübel und Bonorand müssten nicht zwischen den FCA-Profis und der U18 bzw. dem FC Baden hin- und hergeschoben werden – und von Arx‘ Reaktivierung hätte man sich sparen können.
Wichtiger ist neben dem Platz
Neben dem Spielfeld kann sich der FC Aarau momentan nicht über mangelnden Erfolg beklagen: Schon länger steht in Person des einheimischen Unternehmers Philipp Bonorand die Wunschlösung für die Nachfolge des Ende Saison abtretenden Präsidenten Alfred Schmid bereit. Bonorand wird wie Schmid auf wirtschaftliche Stabilität bedacht sein. Und er hat sich bereit erklärt, im finanziellen Notfall Verantwortung zu übernehmen. Am 26. Mai findet an der Generalversammlung der FC Aarau AG die Stabübergabe von Schmid an Bonorand statt: Das Ende einer 13-jährigen Ära – und der Beginn einer neuen Erfolgsgeschichte?
Die Ausgangslage dafür ist vielversprechend: Das deutliche Abstimmungsresultat am 24. November 2019 (60 Prozent Ja-Stimmen) und die seither erreichten administrativen Fortschritte haben aus dem jahrzehntelangen Traum eines neuen Stadions im Torfeld Süd ein wahrscheinliches Szenario werden lassen, das spätestens 2025 mit dem ersten Anspiel in der neuen Arena Wirklichkeit sein soll.
Weiter hat Anfang dieser Woche eine Konsultativ-Abstimmung der 20 Schweizer Profiklubs ergeben, dass sich wohl ein weiterer Wunsch des FC Aarau erfüllen wird: Die Vergrösserung der Super League von zehn auf zwölf Teams ab der Saison 2021/22. Stimmen an der ausserordentlichen Generalversammlung der Swiss Football League am 13. März mindestens 14 von 20 Vereinen für die Aufstockung, gibt es für den FCA in der nächsten Saison nur ein Ziel: Aufstieg!
Seine Tradition, seine finanziellen Möglichkeiten, die Aussicht auf das neue Stadion und die Strahlkraft als einziger Profiklub im viertgrössten Kanton der Schweiz verpflichten den FC Aarau zum Anspruch, zu den Top 12 zu gehören. Bei einem positiven Entscheid zur Ligavergrösserung würde rund um das Brügglifeld eine Euphorie entstehen und das Interesse von Fans und Sponsoren am FC Aarau schlagartig grösser. Natürlich – mit hohen Zielen steigt auch der Druck auf die Entscheidungsträger, sprich auf Präsident, Sportchef und Trainer. Aber lieber so als das Motto «alles kann, nichts muss» der vergangenen Jahre.
13. März und 26. Mai – auch in den nächsten Monaten finden aus Sicht des FC Aarau die wichtigsten Ereignisse abseits des Spielfeldes statt. Was wiederum bedeutet, dass das eigentliche Kerngeschäft eines Fussballklubs, das Geschehen auf dem Rasen, momentan Nebensache ist. Ein Blick auf die Tabelle macht klar, warum: Elf Punkte Rückstand auf den Barrage-Platz und zehn Punkte Vorsprung auf Schlusslicht Chiasso, der FC Aarau ist im Niemandsland der Challenge League gefangen.
Trotz schwächerem Kader im Vergleich zur letzten Saison steht die Zwischenbilanz in keinem Verhältnis zum Aufwand. Knapp fünf Millionen Franken gibt der FCA für seine Profiabteilung aus und somit deutlich mehr als die vor ihm liegenden Kriens, Wil, Winterthur und Vaduz. Die ungenügende Zwischenbilanz haben sich Sportchef Sandro Burki, Trainer Patrick Rahmen und das Team in erster Linie selber zuzuschreiben. Die von den Protagonisten oft benutzten Verweise auf Schiedsrichter-Fehlentscheide und die Nachwirkungen des Barrage-Dramas gegen Xamax müssen ein für alle Mal ein Ende haben.
Das einzig Gute an der aussichtslosen Tabellensituation: Schon jetzt kann mit der Planung der nächsten Saison begonnen werden. Die Trennung von Stefan Maierhofer, Patrick Rossini und Gezim Pepsi zu Beginn dieser Woche war ein Anfang, nicht mehr: Um im Sommer ein ernsthafter Aufstiegsanwärter zu sein, sind weitere Kaderretuschen notwendig, die aktuelle Mannschaft hat die Qualität für die Tabellenspitze nicht. Neben der Verpflichtung neuer, hungriger Spieler braucht es auch den Mut für unpopuläre Entscheidungen, sprich sich vom einen oder anderen Spieler mit weiterlaufendem Vertrag zu trennen. Wer im Sommer bleiben darf und wer den Ansprüchen nicht mehr genügt, wird die Rückrunde zeigen. Und zwar auf allen Positionen.