
«Planlose Weltreise»: Eineinhalb Jahre ergab sich alles aus dem Moment



Eine Liste reichte nicht. Es brauchte eine für die Distanzen und Höhenmeter und eine für das Gewicht jedes einzelnen Gegenstandes in seinem Rucksack, dessen Gewicht er auf maximal zehn Kilogramm beschränken wollte – inklusive seiner professionellen Fotoausrüstung. So steht auf seiner ominösen Liste beispielsweise, dass seine Kreditkarte fünf Gramm wiegt. Mit der akribisch durchgeplanten 100-tägigen Reise im Jahr 2016 wollte der Bottenwiler Oliver Dietschi aus dem Hamsterrad ausbrechen und etwas Neues wagen. Sein Ziel war der Atlantik, den er zu Fuss und mit dem Zelt auf dem Rücken über die Alpen und via Mittelmeer zu erreichen beabsichtigte. Er wollte das Bekannte hinter sich lassen und sich gänzlich dem Unbekannten widmen. Dass seine Wanderung nach einer Woche abrupt endete, scheint auch für ihn im Nachhinein eine logische Konsequenz zu sein.
Angefangen hat alles mit einer gescheiterten Firmenübernahme. Der damals 35-Jährige hatte viel Zeit für seinen Arbeitgeber und seine Karriere aufgewendet und die Übernahme gemeinsam mit ihm geplant. Kurz vor der Unterschrift kam der Deal dann doch nicht zustande. «Danach fing ich an, ein Gefühl von Versagen und eine Leere zu verspüren, die ich nicht einordnen konnte», so Dietschi, der damals ein absoluter Planungsmensch war. Seine Lebensplanung mit beruflicher Karriere, Familie mit Kindern und einem Haus mit Garten geriet völlig ins Wanken. Es dauerte mehrere Monate, bis Dietschi den Mut aufbrachte, seinen durchgeplanten Lebensweg zu verlassen und auf eine längere Wanderreise zu gehen, mit der er aktiv etwas gegen das Gefühl von Leere unternahm. Er kündigte seine Stelle, verkaufte sein Auto und praktisch den kompletten Hausinhalt. «Ich habe mein ganzes Leben aufgelöst.»
Die Wohnfläche von 135 auf 1,7 Quadratmeter verkleinert
Doch seine geplante Reise endete nach nur fünf Tagen jäh, als er sich in Vallorbe (Kanton Waadt) mit einer Schienbeinentzündung wiederfand. «Ich war noch gar nicht bereit, eine so anstrengende Reise anzufangen», so Oliver Dietschi. Nicht sein Fitnessstand sei das Problem gewesen, sondern seine Psyche. «Am Freitag habe ich aufgehört zu arbeiten, am Wochenende war ich Trauzeuge und am Montag machte ich mich auf den Weg. Ich war noch so im Alltagstrott und lief wie geplant immer weiter. Ich hielt die Einsamkeit auf den Jurahöhen nicht aus.» Als er sich mit dem Zug auf den Nachhauseweg machte, fiel eine Welt für ihn zusammen. «Ich wurde richtiggehend aus meinem Hamsterrad hinauskatapultiert und machte mir Gedanken, was die anderen über mich und meine gescheiterte Reise denken werden.» Ein paar Wochen lang wohnte er bei seinen Eltern in Bottenwil, kurierte seine Entzündung aus und schmiedete – diesmal gesundheitlich gezwungen zur Langsamkeit – neue Reisepläne. Wieder zu Fuss sollte es sein, aber diesmal nicht in die Einsamkeit des Juras, sondern mit guter Wandergesellschaft. Also startete er im Herbst den Küstenweg entlang von Irun an der Grenze zu Frankreich nach Santiago de Compostela. Der «Camino del Norte», wie er auch genannt wird, ist 850 Kilometer lang. Im Gegensatz zu den Jurahöhen begegnete er dort vielen verschiedenen Menschen. «Meine Menschenkenntnisse entwickelten sich beim Reisen enorm», so Oliver Dietschi. Ihm gefiel das Wandern auf dem Pilgerweg so sehr, dass er noch drei weitere Caminos lief.
Über ein Grenzerlebnis auf unendlichem Eis in Patagonien
Der passionierte Landschaftsfotograf lernte in der Folge einen US-Amerikaner kennen, mit dem er Portugal, Spanien und Marokko bereiste. Im November 2016 kehrte er für zwei Wochen nach Hause zurück, bevor er nach Lima flog. Danach wanderte er durch Peru, Bolivien, Chile und Argentinien, wo er aus einem spontanen Entscheid heraus in der Region Patagonien das grösste Abenteuer seiner Reise erlebte. Um fünf Uhr abends kam er in El Chaltén im Süden von Argentinien an. Eine Stunde später war er bereits für den bekannten Ice Trek angemeldet. «Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich einliess», so Oliver Dietschi. Vor dem Start wurde seine mitgebrachte Ausrüstung kontrolliert und für genügend befunden. Nachdem er noch Handschuhe vor Ort gekauft hatte, machte er sich mit seinen Trekking-Schuhen also auf zum achttägigen Abenteuer auf dem Eis. Mit dabei: Profis aus Europa, die sich auf diesen Trip vorbereitet hatten und nur deswegen nach Patagonien gereist waren. Mit seinen normalen Regenhosen und der nicht isolierten Schlafmatte sei die Erfahrung für Oliver Dietschi die bislang extremste in den Bergen gewesen. «Eine mitreisende Abenteurerin hat jeden Abend geweint», erinnert sich der heute 40-Jährige zurück. Eiskalte Winde, die mit 100 km/h um die Ohren pfeifen, unsichtbare Gletscherspalten, in die man jeden Moment mehrere Meter in die Tiefe stürzen konnte, oder der eingefrorene Finger, für den Oliver Dietschi zwei Monate brauchte, bis er wieder Gefühl hatte. Dies alles führte dazu, dass er heute sagt: «Es war eine Grenzerfahrung. Diesen Trip würde ich so unvorbereitet nicht mehr machen.»
Weitere Teile Patagoniens bewanderte Oliver Dietschi fortan in gut vorbereiteten Tagestouren zu Fuss. Auf einem Gipfel kam es dann zu einer schicksalhaften Begegnung mit der Holländerin Marjol, die die ersten 13 Jahre ihres Lebens in Indonesien verbrachte. Mit ihr hat Oliver Dietschi heute einen sieben Monate alten Sohn namens Finn und führt eine glückliche Ehe. «Sie hat mein Leben verändert.»
Wie aus drei Wochen drei Monate werden können
Nach zwei Monaten in Südamerika war für Oliver Dietschi wieder Familienzeit angesagt. Er traf seine Schwester und deren Familie in Neuseeland und verbrachte eine grosse Zeit davon mit seinen beiden vierjährigen Neffen auf dem Rücksitz eines Mietautos. «Donald Duck war unser stetiger Begleiter», erinnert sich Dietschi mit einem Lächeln zurück.
Kurz darauf verabredete er sich mit Marjol für einen dreiwöchigen Trip auf Sumatra, einer grossen indonesischen Insel. Dies, obwohl er es gar nicht beabsichtigt hatte, denn damals waren sie beide noch kein Paar. «Ich war mir nicht sicher, ob ich nach mehreren Monaten totaler Unabhängigkeit wieder die Verpflichtung eingehen wollte, mit jemand anderem zu reisen», so Dietschi. Doch er sagte zu und es folgte ein atemberaubendes Dschungeltrekking, eine wunderschöne Tierwelt und viele skurrile Situationen mit Einheimischen. «Weil Marjol indonesisch spricht und viele Geheimtipps kennt, waren wir an Orten, an denen Touristen sonst gar nicht hinkommen.»
Aus den anfänglichen drei Wochen wurden drei Monate, in denen das Paar ausserdem Sri Lanka, Vietnam, Hongkong und Japan bereiste. Im Sommer 2017 kehrten die beiden schliesslich gemeinsam nach Europa zurück und Marjol zog in die Schweiz. Seither wohnen sie in Aarau. Ist er wieder im Hamsterrad gefangen? «Logisch funktioniert man nach dem Tempo und dem Gesellschaftsdruck der Schweiz wieder, aber wir versuchen möglichst oft, uns bewusste Auszeiten zu nehmen», sagt der Familienvater. Sieben Wochen nach der Geburt von Finn unternahm die junge Familie bereits den ersten Ausflug mit dem Zelt in die Jurahöhen. «Zeit in der Natur und mit seinen liebsten Menschen ist etwas vom Kostbarsten im Leben», weiss Dietschi. Auch deshalb verzichten sie beispielsweise aufs Fernsehschauen oder arbeiten beide in einem Teilzeitpensum.
Knapp 30 000 Franken für eineinhalb Jahre aufgewendet
Am vergangenen Freitag hielt Oliver Dietschi im Fabrikli in Bottenwil einen Vortrag über seine Reise. Nach seinem ersten in der Biberburg in Hirschthal erhielt er unzählige E-Mails und Briefe mit Dankesbekundungen zu seiner Inspiration und Komplimenten zu seinen Landschaftsfotos. Auch nach seinem zweiten ausverkauften Vortrag bleibt die Botschaft dieselbe: «Es braucht Mut, loszulassen und sich von seinen Besitztümern emotional loszulösen.» Dies schliesse aber eine berufliche Karriere nicht aus. Man solle lediglich darauf achten, seinen Lebensstandard aus Bequemlichkeit nicht immer weiter zu erhöhen. «Auf Sachen im Nachhinein wieder zu verzichten, ist sehr schwierig.»
Doch wie kann man sich eine solche Reise überhaupt leisten? «Wenn man weltoffen ist, sich auf die Einheimischen und den Lebensstandard im jeweiligen Land einlässt, kostet das Reisen nicht so viel, wie man annimmt», so Oliver Dietschi, der um die 30 000 Franken dafür aufgewendet hat. Am teuersten seien mit Abstand die Flüge gewesen. Dagegen übernachtete er häufig im eigenen Zelt oder ass mit Einheimischen, was wiederum wenig Geld kostete. Erwähnenswert ist ausserdem, dass er während eineinhalb Jahren nie krank oder von Kopfschmerzen geplagt war, was vor seiner Reise oft vorkam. Nebst den Erinnerungen und einem geänderten Lebensstil bleibt Oliver Dietschi heute die Erkenntnis: «Ich hatte noch nie so ein Gefühl von Glück, Freiheit und Zufriedenheit. Dies gilt es, in kleinen Portionen auch in den Alltag einzubauen.»