Weihnachten, Proteste und Kirchenaustritte

Die letzte Adventswoche begann mit einem Paukenschlag. CVP-Bundesrätin Viola Amherd outete sich als Nicht-Kirchengängerin, die auch an Heiligabend kein Gotteshaus aufsucht. Sie, die im Oberwallis gross geworden ist. Einem Landstrich, der einst so tief gläubig war, wie der Schnee im Winter hoch.

In Kleinhüningen (BL) besuchten rund vierzig Personen den reformierten Weihnachtsgottesdienst. Als nach 22 Uhr die Pfarrerin das Wort ergreifen wollte, kam es zu Eklat. Aus den Reihen der Gläubigen erhoben sich Vermummte und protestierten mit einem beschrifteten Leintuch. Frau Pfarrer soll – es gilt die Unschuldsvermutung – im Internet rechtsextremes Gedankengut verbreitet haben. «Unsere Botschaft lautet Frieden statt Hetze» soll eine Aktivistin gerufen haben. Die betroffene Pfarrerin taxiert dies als «massiven Übergriff auf die christliche Gemeinschaft». Eine Kirche markiere in der heutigen Gesellschaft immer noch ein Stück weit einen geschützten Raum. Das sieht auch der Gesetzgeber so. Die protestierenden Protestanten haben ein Offizialdelikt begangen – eine «Störung der Glaubens- und Kulturfreiheit».

Ein turbulentes Jahr durchlebte auch die römisch-katholische Kirche. Nicht zuletzt, weil weitere Missbrauchsskandale von happigem Ausmass in diversen Ländern publik wurden. Im katholischen Luzern haben sie – so die Vermutung der Kirchenoberen – tiefe Spuren hinterlassen. 2500 Gläubige (und Kirchensteuerpflichtige) habe 2018 ihre Zahlungen eingestellt. Auch für 2019 scheint es keine Trendumkehr gegeben zu haben.

Wie diese Entwicklung aufhalten? Negativrekorde gibt es auch bei den Reformierten – in Luzern und im Aargau. Hier hat sich unlängst Kirchenratspräsident Christoph Weber-Berg geäussert. «In Kirchgemeinden mit lebendigem Gemeindeleben und breitem Angebot seien Austritte nicht seltener als in Konfliktgemeinden», sagt er. Dass der Trend scheinbar unbeeinflussbar ist, sei frustrierend, aber auch entlastend: «Man darf sein Handeln nicht an den Austrittszahlen orientieren, sondern man soll einfach freudig, ansteckend und glaubwürdig am Ort Kirche sein», sagt Berg, der neben seinem Kirchenratsamt Theologe und Pfarrer ist.

2019 haben die Zürcher Reformierten 500 Jahre Zwingli gefeiert. «Zwinglistadt» war einmal: Um 1850 waren über 90 Prozent der Stadtzürcher Wohnbevölkerung evangelisch-reformiert. Bis 1970 stieg der Anteil der Römisch-katholischen auf etwa 40 Prozent an – vor allem durch die Zuwanderung. Seither wuchs die Gruppe der Konfessionslosen stetig – nicht nur durch Kirchenaustritte, sondern auch durch den Verzicht der Taufe von Kindern sowie durch die Zu- und Abwanderung. Aktuell sind 34 Prozent der Stadtzürcher Bevölkerung konfessionslos, 28 Prozent römisch-katholisch, 22 Prozent reformiert. Die restlichen Prozente? Primär Muslime, aber auch Juden, Christlich-Orthodoxe und Buddhisten.

Andere Zahlen aus der Zürcher Statistik, die zu diesem Thema wesentlich detaillierter ist als jene des Aargaus: Rund ein Drittel derjenigen, die sich als religiös bezeichnen, besuchen kaum je kirchliche oder glaubensgemeinschaftliche Veranstaltungen. 38 Prozent der Zürcherinnen und Zürcher zwischen 25 und 39 Jahren sind konfessionslos.

Interessant ist auch, dass konfessionslose Frauen im Durchschnitt mehr Kinder gebären als die übrigen Mütter. In der Altersgruppe der 25- bis 39-Jährigen gibt es auch die meisten Kirchenaustritte – meist von gut gebildeten Personen. Finanzielle Überlegungen werden nur selten als Grund genannt. Vom Mitgliederschwund seien nicht nur Kirchen, sondern auch andere Institutionen und Vereine betroffen, sagt Andreas Hurter, Präsident der reformierten Kirchgemeinde Zürich.

Prominenteste Kirchenaustretende 2019 ist SVP-Nationalrätin und Unternehmerin Magdalena Martullo-Blocher. Die Nichte eines Pfarrers hat der reformierten Kirche den Rücken zugekehrt. Das Religionsportal kath.ch warf Martullo vor, sich die Kirchensteuer sparen zu wollen.

Da die SVP-Nationalrätin reformiert ist, dürften Äusserungen von Weihbischof Peter Henrici kaum der Austrittsgrund sein. Der hatte im ersten Quartal 2019 gesagt, «als Schweizer kann man die SVP nicht wählen». Begründung? Die SVP verfolge mit ihren Mehrheitsansprüchen ein falsches staatspolitisches Modell. Versucht dies nicht jede Partei – auch die CVP?