Gastrokritiker Christian Seiler: «Den Gault Millau hab ich aufgegeben»

Isst nicht, um zu leben, sondern lebt, um zu essen: Gastrokritiker Seiler. © Illustration: M. Roost und R. Hausheer
Isst nicht, um zu leben, sondern lebt, um zu essen: Gastrokritiker Seiler. © Illustration: M. Roost und R. Hausheer

Er isst, reist und schreibt. Und was Christian Seiler übers Essen schreibt, liest sich, dass man hungrig wird. Der 57-jährige Journalist hat das Geniessen zu seinem Beruf gemacht und ist weltweit auf der Suche nach Mahlzeiten, die nicht nur satt, sondern glücklich machen. Seine selbstironischen Kolumnen und Reportagen erscheinen in Zeitschriften im ganzen deutschsprachigen Raum.

Der ehemalige Chefredaktor der Zeitschrift «Du» lebt und isst in Wien, wenn er nicht gerade auswärts isst. Ihn zu treffen, ist nicht ganz einfach. Schliesslich klappt es im Bregenzerwald, wo sich der Wiener kulinarisch aufhält. Zum Gespräch trinkt er einen Milchkaffee, die Praline lässt er liegen.

Herr Seiler, wie finde ich in einer fremden Stadt ein gutes Restaurant?

Christian Seiler: Freunde anrufen und dann deren Freunde, irgendjemand hat immer einen Tipp, notfalls den Rezeptionisten oder, noch besser, dessen Mutter fragen.

Gehen Sie nie spontan in ein Restaurant?

Nein, ich habe aus meinen Fehlern gelernt. Es gab die Zeit, in der ich mich von Äusserlichkeiten habe verleiten lassen. Nette Tapete, schöne Stühle. Aber nichts vertrage ich so schlecht wie das Gefühl, im falschen Restaurant zu sitzen. Deshalb plane ich meine Restaurantbesuchen akribisch. Ich melde mich aber nie als Journalist an, und ich bezahle meine Rechnungen selbst.

Was halten Sie von den einschlägigen Restaurantguides?

Ich studiere diese Fressführer, aber mit gebührender Vorsicht. Etwa in Italien bringt der Michelin gar nichts, da ist es besser, den Slow-FoodFührer «Osterie d’Italia» zu studieren. Den Gault Millau hab ich aufgegeben.

Mit welchen drei Rezepten oder Produkten kommt man notfalls durchs Leben oder mindestens durch die Woche?

Mit der Tomatensauce der grossen Marcella Hazan – eine Dose Pelati, eine halbe Zwiebel und einen Brocken Butter – kommt man schon sehr weit. Hat man noch eine gute Currypaste im Haus und selbst gemachtes Pesto im Kühlschrank, kann so viel nicht mehr schiefgehen.

Während Sie das gute Essen zelebrieren und beschreiben, bauen Supermärkte ihre Abteilungen mit Fertigprodukten weiter aus.

Ja, das Kochen verliert gerade dramatisch an Stellenwert, die Menschen nehmen sich keine Zeit mehr dafür. Viele Leute holen sich unter der Woche das Essen irgendwo an der Tankstelle. Am Wochenende kochen sie dann aber in ihren Rolls-Royce-Küchen fünfgängige Menüs. Was verloren geht, ist die alltägliche Wertschätzung einer selbst gemachten Pastasauce.

Was spricht dagegen, irgendetwas zu essen, damit man keinen Hunger mehr hat?

Das kann man machen, man verpasst einfach etwas vom Besten im Leben. In der Regel haben Leute, die nach diesen Prinzipien leben, zu wenig Vertrauen in ihre Geschmackssensorik. Sie behaupten, den Unterschied nicht zu bemerken. Das würden sie aber sehr wohl.

Aber es ist doch snobistisch, um jeden Espresso ein Theater zu machen, wenn er nicht aus einer italienischen Kolbenmaschine kommt.

Kaffee ist ein ganz schwieriges Thema. Aus Kolbenmaschinen kommt ja nur im besten Fall ein wirklich guter Kaffee, meist ist er scheusslich, aber man darf es nicht sagen.

Wie trinken Sie Ihren Kaffee?

Ich trinke zu Hause fast gar keinen Kaffee. Ich habe mich von der Idee verabschiedet, zu Hause guten Kaffee machen zu können. Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Resultat. Ich trinke darum lieber Tee, das kann ich.

Essen, ob teuer, biologisch oder vegan, dient heute doch vor allem der Abgrenzung.

Viele teure Restaurants leben davon, dass sie nicht nur gutes Essen, sondern vor allem den Distinktionsgewinn verkaufen, das ist klar. Das ist bei einem Opernabo oder bei einer Luxuskarosse in der Garage ja nicht anders.

Aber ums Essen geht es in Spitzenrestaurants doch gar nicht mehr, sondern um seine Inszenierung.

Sie ist Teil des Erlebnisses, aber die Köche in Weltklassenrestaurants sind auch Erneuerer. In ihren Laborküchen entwerfen sie das Essen der Zukunft. Das Restaurant Noma in Kopenhagen von René Redzepi etwa war die Zelle des Neo-Regionalismus. Zu verkochen, was die eigene Landschaft hergibt, auch Moos und Baumrinde, die legere Art, Gäste zu bewirten – all das hat viele junge Köche in aller Welt inspiriert.

Der Hype um das «Noma» zeigt aber auch, dass Essen immer schnelllebigeren Trends unterworfen ist.

Ich mache diese Moden wirklich gern mit, das sind richtige Wow-Erlebnisse. Aber wenn ich etwa auf mein erstes Essen im «Noma» zurückblicke, dann muss ich auch sagen, dass ich wohl auf die Erzählung von René Redzepi ein bisschen reingefallen bin. Es war vielleicht gar nicht so toll, aber es war sehr, sehr neu.

Und was kommt nach Moos und Fichtennadeln auf unsere Teller?

Das Pendel schlägt wieder in die andere Richtung aus. Die Klassiker der französischen Küche kommen zurück. Steinbutt, Gänseleber und Hummer.

Und dazu eine Flasche Wein für 500 Franken?

Ich kaufe für den Alltag überhaupt keinen Wein ein, der teurer ist als 40 Franken. Man kriegt auch schon für 15 Franken sehr guten Wein.

Dann kann ein Wein gar nicht 500 Franken wert sein?

Ja und nein, es gibt Weine für 500 Franken die einfach fantastisch, unglaublich sind. Ich würde sogar sagen, sie sind das Geld wert. Aber mir ist das zu viel, da mache ich nicht mit. Aber wenn Sie mich einladen, dann trinke ich mit.

Sie essen regelmässig in Spitzenlokalen, wo ein Menü 500 Franken kostet – für eine Person, versteht sich.

Mir ist das Essen sehr viel wert, ich verzichte dafür auf andere Dinge. Und wie gesagt, ein Besuch in der Wiener Staatsoper kostet mehr Geld. Ich finde, dass viele Lebensmittel heute zu billig sind, dass Nahrungsmittel vom Handel wie Klopapier behandelt werden. Schweinskotelett für sieben Franken, die können einfach nichts. Die Tiere haben unter Garantie ein furchtbares Leben gehabt und mussten einen furchtbaren Tod sterben, sonst rechnet sich das nicht. Billigfleisch esse nicht, das ist ein ethischer Grundsatz von mir, den ich nicht aufgebe.

Werden Sie von Freunden noch zum Essen eingeladen?

Durchaus, aber gerade kürzlich hat ein Freund zu mir gesagt, er wolle mich nicht bekochen, das sei ihm zu anstrengend. Was ich eine Frechheit finde, ich bin wirklich ein wahnsinnig guter Gast. Ich erwarte nicht viel, und ich bringe immer guten Wein mit.