
Fussball, du elender Bastard – der FC Aarau nach dem verpatzten Aufstieg
Der Aargauerplatz ist für die Aufstiegsfeier hergerichtet. Im Penny Farthing, dem Treffpunkt der Fans, trinken und johlen sie schon drei Stunden vor dem Spiel. Die Party steigt. Spätestens am frühen Abend. Nach dem Schaulaufen im Brügglifeld. Denn was soll da noch schiefgehen? Mit einem 4:0 sind die Aarauer Donnerstagnacht aus Neuenburg heimgekehrt. 4:0 – die Rückkehr in die Super League nach drei Jahren scheint bloss eine Formsache.
Am frühen Abend aber, sehen wir Männer weinen. Hemmungslos, verzweifelt, fassungslos, sprachlos auch. Sie haben gelitten, gekämpft, gerackert, in dieser unbarmherzigen Hitze. Sie haben das Letzte aus sich herausgeholt. Alles, für dieses grosse Ziel. Für den Aufstieg. Für die Krönung einer surrealen Saison, die mit sechs Niederlagen begann, begleitet von Zweifeln und Verzweiflung. Selbst nach elf Spielen waren die dunklen Wolken nicht verzogen. Vier Punkte hatte der FC Aarau zu jenem Zeitpunkt erst. Abstiegskampf wurde prognostiziert. Aber keine Schuldzuweisungen, keine dreckigen Spielchen. Nein, die Mannschaft, der Klub, die Fans, sie alle stellten sich der Herausforderung. Und wurden mit einer einzigartigen Aufholjagd, einem atemberaubenden Steigerungslauf auf Platz 2 belohnt.
4:0 – was soll da noch schiefgehen? Erst recht, weil bei Xamax der Topskorer Raphaël Nuzzolo wegen einer Sperre fehlt. Und, weil Xamax-Trainer Stéphane Henchoz nach der Hinspiel-Klatsche bereits Signale der Resignation aussendete. Der künftige Sion-Trainer hielt nach dem 0:4 fest, dass seine Spieler mit dem Kopf nicht mehr bei der Sache seien, weil viele vor einer ungewissen Zukunft stünden. «Für uns geht es nur noch darum, die Barrage anständig über die Bühne zu bringen.»
Natürlich kennen wir die Geschichte von Liverpool, das nach einem 0:3 in Barcelona zu Hause 4:0 siegte. Aber bei Aarau gegen Xamax, da kann schlicht nichts schiefgehen.
Nur: Xamax tritt nicht auf, als hätte es sich schon aufgegeben. Mit Härte schüchtern die Neuenburger die Aarauer ein. Mit langen Bällen bringen sie sie aus dem Konzept. Und mit Nickligkeiten schüren sie Hektik. Der Plan geht auf, nachdem Serey Die einen Penalty verwandelt, den Leo mit einer unbeholfenen Aktion gegen Karlen verschuldete.
0:1 – alles zittert
Okay, 0:1, was soll da noch schiefgehen? Die Spieler denken anders. Sie konstatieren, dass sie Mühe haben, Zugriff aufs Spiel zu kriegen. Die Mühle im Kopf beginnt zu drehen. Die böse Stimme meldet sich: Ihr könnt etwas verlieren. «Wir wussten nicht, wie wir mit der Situation umgehen sollen», räumt Olivier Jäckle ein. «Wir haben zwar schon vor Spiel gewusst, dass wir etwas zu verlieren haben. Aber nach dem 0:1 wurde dieses Gefühl konkreter.»
Und bei Xamax wächst der Glaube. Nach zwei Eckbällen, beide von Geoffrey Tréand getreten, steht es 0:3. Erst setzt sich Verteidiger Marcis Oss gegen Leo im Kopfballduell durch. Danach ist es Stürmer Kemal Ademi, der per Kopf zum 0:3 trifft. Jetzt sind es nicht mehr Zweifel, sondern die pure Versagensangst, die die Spieler des FC Aarau erfasst.
0:3 zur Pause. Trotzdem: Da wird doch wohl nichts mehr schiefgehen? Erst recht, weil sich die Aarauer vom Schock erholen, sich wieder aufrichten, die bösen Gedanken verscheuchen. «Wir waren in der Pause echt am Ende, aber wir sind aufgestanden. Und wir waren sowohl in der zweiten Halbzeit wie auch in der Verlängerung das klar bessere Team», resümierte Jäckle. Aber Xamax trifft. Tréand, ausgerecht er, der vor zwei Jahren trotz eines laufenden Vertrags von Aarau zu Xamax wechselte, auf einen Monatslohn verzichtete, um den Vertrag mit den Aarauern auflösen zu können – ausgerechnet dieser Tréand erzielt das 0:4.
Fussball, du elender Bastard! Aber das Ding lässt sich drehen. Liesse sich drehen. Denn Marco Schneuwly vergibt in der 90. Minute den Aufstiegsball. Von Petar Misic brillant bedient, schiesst er aus kürzester Distanz ziemlich hoch übers Tor. 103 Treffer hat der Mann in der Super League erzielt. Absurd. Wie auch der Pfostenschuss von Frontino zu Beginn der Verlängerung. Fussball, du elender Bastard! Was hat dir Frontino angetan, damit du ihm den Aufstiegstreffer zum Karriereende nicht gönnst?
Burki bleibt – und Tasar?
Penaltyschiessen. Da kann vieles schiefgehen. Von den letzten 24 Penaltys gegen Aarau sei nur einer nicht reingegangen, erzählt der Kollege nebenan auf der Pressetribüne. Die Geschichte ist schnell erzählt. Elsad Zverotic, der Captain, verschiesst als erster. Alle folgenden Schützen treffen. Alles geht schief.
Wirklich alles? Nein. Dem FC Aarau ist es gelungen, den von GC umworbenen Sportchef Sandro Burki mit einem Dreijahresvertrag zu binden. Damit dürften auch die Chancen steigen, dass Trainer Patrick Rahmen nicht weiterzieht, sollte er ein Angebot, beispielsweise aus Basel, erhalten. Und auf die Frage, warum Nicolas Bürgy und Frontino verabschiedet wurden, nicht aber Varol Tasar, der bei Servette einen Vertrag unterschrieben hat, antwortete Präsident Alfred Schmid: «Vielleicht bleibt Tasar bei uns.»
Trotzdem ist der Fussball ein Bastard. Oder war es zumindest gestern. «Nein», sagt Jäckle. «Natürlich ist das maximal bitter. Aber am Samstag hörten wir vom Tod von Antonio Reyes. Und ein Freund konnte nicht zum Spiel, weil seine Mutter gestorben ist. Sie sehen, es gibt Dinge, die stehen weit über dem Fussball.»