Silvan Dillier nach Platz 2 bei Paris-Roubaix: «Habe gezeigt, wozu ich fähig bin»

Silvan Dillier, während Sie sich über Ihr tolles Resultat freuen, kam die traurige Nachricht, dass der Belgier Michael Goolaerts nach seinem Sturz im Rennen an einem Herzstillstand gestorben ist. Wie geht man als Radprofi mit so einem Schicksalsschlag, der einen Konkurrenten trifft, um?
Silvan Dillier: Zuerst denkt man daran, wie schmerzhaft so ein Unglück für die Familie sein muss. Und es ist für die ganze Radsportszene natürlich ein unglaublich tragischer Fall. Man steht zusammen an der Startlinie. Ein paar Stunden später heisst es dann, ein Fahrer ist gestorben. Oder ist gestürzt und kämpft um sein Leben. Michael war vier Jahre jünger als ich. Das gibt einem schon zu denken. Plötzlich kann es vorbei sein.

Trübt so ein Todesfall auch ein wenig die Freude über das, was Sie am Sonntag erreicht haben?
Wenn immer man solche schrecklichen Nachrichten vernimmt, dann hat das einen sehr bitteren Beigeschmack. Aber letztlich kann man dieses Unglück ja nicht abwälzen auf das eigene Resultat. Es wäre schade und auch falsch.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie auf das Rennen zurückblicken?
Ich möchte das Rennen – oder einen Teil davon – noch mal anschauen. Damit ich die Bilder auch aus einer anderen Perspektive sehe. Ich möchte wissen, was gut geklappt hat, was weniger, was ich hätte besser machen können.

Der zweite Platz bei Paris–Roubaix ist ein grossartiges Resultat. Andererseits ist der Zweite immer der erste Verlierer. Welches Gefühl überwiegt bei Ihnen?
Ich kann sagen, dass ich alles dafür getan habe, um dieses Rennen gewinnen zu können. Ich kann mir nichts vorwerfen. Letztlich ist es halt etwas blöd gelaufen, dass ausgerechnet Peter Sagan mit mir zusammen ins Vélodrome eingebogen ist.

Was denkt man, wenn man zum Schluss mit einem Sagan um den Sieg fährt?
Gegen jeden anderen hätte ich vermutlich eine 50/50-Chance gehabt. Gegen einen Sagan sicher weniger. Aber eben: Er war für mich Engelchen und Teufelchen in einer Person. Engelchen, weil wir uns nur dank seiner Hilfe und Kooperation in die Lage manövrierten, zusammen um den Sieg zu fahren. Teufelchen, weil es brutal schwierig ist, einen Gegner zu schlagen, der auch an einer Tour de France jeden Massensprint gewinnen kann.

War Ihnen das schon vor dem Endspurt bewusst? Oder kann man am Ende eines langen, brutalen Rennens gar nicht so weit vorausdenken?
Für mich ging erst einmal darum, den Platz auf dem Podium zu sichern. Die Verfolger hinter uns machten ja richtig Dampf. Darum haben Sagan und ich auch gut miteinander harmoniert. Je näher das Vélodrome in Roubaix kam, habe ich mir schon meine Gedanken gemacht, wie meine Taktik aussehen könnte.

Wie verlief die Kommunikation mit Sagan? Haben Sie viel zusammen geredet oder war das mehr eine schweigende Harmonie?
Wir hatten die Verfolger im Nacken. Er wurde langsam müde, ich war voll am Limit. Da habe ich ihm gesagt: «Auf den Strassenabschnitten kann ich mitführen. Aber auf dem Kopfsteinpflaster nicht, weil wir dann viel zu langsam sind.» Dann hat er gesagt, dass er auf den Pavées gerade so schnell fährt, dass ich noch mithalten kann. Das war aber teilweise schon sehr hart. Ich musste tief gehen, um an seinem Hinterrad zu bleiben. Auf jeden Fall kooperierten wir so gut zusammen.

Hätten Sie etwas anders machen können am Schluss?
Er hatte vielleicht ein wenig mehr Reserven als ich. Das sah man auch im Sprint. Ich habe dort das Bestmögliche herausgeholt. Aber das reichte nicht gegen ihn. Und ich muss sagen, dass meine Kräfte nach diesem langen Rennen gelitten hatten. Ich wäre nicht mehr in der Lage gewesen, zwei Kilometer vor dem Ziel zu versuchen, Sagan abzuhängen. Da muss man realistisch bleiben.

Was bedeutet Ihnen dieser zweite Platz?
Es ist kein Sieg. Aber es ist ein Erfolg, der grosse Wellen geworfen hat. Und der zeigt, wozu ich fähig bin. Es ist definitiv ein Rennen, welches ich nie mehr vergessen werde und ein echter Meilenstein in meiner Karriere. Oder auf Paris-Roubaix gemünzt: Ein Pflasterstein (lacht).

War es auch wichtig, Ihrem neuen Team, AG2R, gleich zu beweisen, dass man das Potenzial hat?
Definitiv. Vor allem wenn man noch die Vorgeschichte berücksichtigt mit meinem Fingerbruch (im März in Italien bei Strade Bianche; Anm. der Red.). Dann gewann ich etwas mehr als eine Woche vor Paris-Roubaix noch die Route Adélie. Das zeigte, dass ich meine Hausaufgaben gemacht habe, trotz meiner Verletzung.

Es war ja lange Zeit nicht einmal sicher, ob Sie bei Paris–Roubaix dabei sind.
Ja, ich hatte am Ende auch etwas Glück, dass sich durch Stürze an der Flandern-Rundfahrt plötzlich Lücken im Aufgebot aufgetan haben und ich dadurch nachselektioniert wurde. Erst am Donnerstag stand definitiv fest, dass ich Teil des Teams sein werde. An jenem Morgen liess ich in einem Röntgeninstitut in Frankreich noch einmal meinen Finger röntgen. Der Arzt befand dann, dass der Knochen zufriedenstellen heilt und gab mir grünes Licht.

Trotzdem: Mit angeknackstem Finger über Kopfsteinpflaster – man kann sich Angenehmeres vorstellen.
Ich habe mich gut gefühlt und meinen Finger auch noch auf ein paar Pavées-Abschnitten getestet. Als ich da keine Schmerzen verspürte, war für mich klar, dass ich bei diesem Abenteuer dabei sein möchte.

Und während Paris–Roubaix haben Sie wirklich nichts gemerkt?
Nein, ich war schmerzfrei. Ich habe den Finger, der leicht geschwollen ist, noch etwas eingebunden und am Ringfinger fixiert, damit er noch etwas besser stabilisiert wird. So ging das wunderbar.

Wie sieht das weitere Programm aus?
Nächsten Sonntag bestreite ich das Amstel Gold Race. Dann nehme ich an der Tour de Romandie und der Kalifornien-Rundfahrt teil. Dann folgen Gippingen, die Tour de Suisse und die Schweizer Meisterschaft

Und die Tour de France?
Da gehöre ich zur Kandidatenliste. Ich bin auf jeden Fall zuversichtlich und glaube, dass ich Qualitäten habe, die dem Team an der Tour helfen können.