Kalte Füsse

Wohnungen sind an manchen Orten in diesem Land ein Luxusgut. So kommt es, dass sich an einem Donnerstagabend etwa 25 Personen für eine Wohnungsbesichtigung vor einem Hauseingang einfinden. Alle sind gierig wie Geier auf diese eine Wohnung. Doch Geier würden nun wie wild um das Objekt ihrer Begierde kämpfen. Hier jedoch schweigt man sich an und starrt auf sein Smartphone. «Entschuldigen Sie, suchen Sie alle dringend eine Wohnung?», fragt ein junger Mann plötzlich. Ein paar Anwesende lachen. Will er damit ernsthaft ausdrücken, dass alle mit einem Dach über dem Kopf von hier verschwinden sollten? «Mein Bruder hätte auch noch eine Wohnung zu vermieten», fügt er an. Gleich gross wie diejenige, die es heute zu besichtigen gebe, nur halt eben 500 Franken teurer. Verständlich, dass sich niemand für das Angebot interessiert. Dann erscheint der Mieter der Wohnung. Vor dem Betreten sollen wir doch bitte «d Schuah abzüche», verlangt der bestimmte Bündner. Nachdem alle etwas verlegen aus den Schuhen geschlüpft sind, fügt er an: «Nur zwei Personen auf einmal reinkommen, bitte». Schon sind die ersten beiden in der Wohnung verschwunden. Wir andern stehen in den Socken im Treppenhaus und frieren uns am Boden die Füsse ab. Man schweigt sich wieder an. Das Licht geht aus. Jemand findet den Schalter. Die Türe öffnet sich wieder. Ich wäre an der Reihe. Doch ich muss mich gedulden. Die Deutsche, die aus der Wohnung tritt, will erst noch den Keller sehen. Was hier passiert, fasziniert mich. Weil die Situation so surreal scheint. Alle hier sind meine Konkurrenten. Und doch fühle ich mich irgendwie mit den Leuten verbunden. Ich habe das Gefühl, ein Erlebnis mit ihnen zu teilen. Kalte Füsse schweissen halt zusammen.

Waltsworte ist die regelmässige Kolumne von Tobias Walt, Redaktionsleiter bei Radio Inside.