
Gar nicht linientreu
Malbücher für Erwachsene boomen. Das Kolorieren der vorgedruckten Muster – Blumen, Tiere oder Häuser – soll beim Stressabbau helfen. Das wollte ich ausprobieren. Am Kiosk kaufte ich mir ein Büchlein mit Postkarten zum Ausmalen. «Sie können Ihrer Kreativität freien Lauf lassen und dabei zur Ruhe finden», versprach es. Daheim machte ich mich sofort auf die Suche nach einer Schachtel mit Buntstiften – leider erfolglos. Ich fand nur einen alten, abgekauten Farbstift in Hellblau und einen in Himbeerrot. Doch ich war fest entschlossen, zu entspannen. Boten die wenigen Farben nicht auch eine kreative Herausforderung?
Ich setzte mich mit dem Malbuch an den Tisch, blätterte durch die Motive und wählte ein Einhorn – wenn schon fantasievoll, dann richtig. Vorsichtig begann ich, die Flügel des Tieres auszumalen. Eine Feder blau, die nächste rot. Die Malfelder wurden immer winziger, je mehr sich die Form des Flügels verschmälerte. Irgendwann waren sie kleiner als der Durchmesser der Farbstiftspitze. Die dicken Linien, die mir vorgeben wollten, wie ich zu malen hatte, ärgerten mich plötzlich. Ich malte quer über die Felder hinaus, hinterlegte sie mit sanften Schattierungen und kräftigeren Schraffuren. Meine Leidenschaft für die Kunst erwachte. Das Werk würde toll aussehen, war ich in meinem kreativen Rausch überzeugt. Die Postkarte konnte ich später mit den Worten «Schau, neues Hobby» an eine Kollegin verschicken.
Nachdem ich auch das letzte Eckchen Weiss übermalt hatte, begutachtete ich das Bild. Das fertige Resultat war grässlich: ein sinnloses Durcheinander an blauer und roter Farbe, darin ein Einhorn. Diese Karte wollte ich nicht versenden. Meine Kollegin würde sich Sorgen machen. Entspannt war ich auch nicht, weil ich vom Malen Nackenschmerzen bekommen hatte. Ich riss die Karte aus dem Buch und legte sie zusammengefaltet auf den Tisch. Wenn ich zur Entspannung Tee trinke, kann ich dort wenigstens die Tasse draufstellen.