
Alt Ständerat Rhinow zur Krise des Freisinns: «Die FDP lebte immer mehr von den Köpfen als vom Programm – diese Köpfe sind dünn gesät»
Wir treffen René Rhinow auf der Redaktion in Liestal. Der alt Ständerat, der für einen gesellschaftsliberalen und öffnungsfreundlichen Kurs steht, bringt eine Lektüre mit. Zehn Seiten konzise Gedanken zum Liberalismus. Etwas ist ihm besonders wichtig: Rhinow will die FDP nicht einfach kritisieren. Sondern zeigen, wohin sie steuern soll. Sondern zeigen, wohin sie steuern soll.
Herr Rhinow, Hand aufs Herz: Wählen Sie noch FDP?
René Rhinow: Ja.
Aus Überzeugung oder Gewohnheit?
Aus Überzeugung – und Hoffnung.
Worauf hoffen sie?
Dass sich die FDP dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel entsprechend entwickelt. Und dass sie gewisse liberale und republikanische Grundwerte wieder mehr gewichtet.
Was fehlt Ihnen konkret?
Ich unterscheide zwischen zwei Ebenen: Äussere Faktoren wie der einschneidende soziokulturelle und der sozioökonomische Wandel kann sie nicht beeinflussen. Diese führen aber dazu, dass es seit 30 Jahren immer schwieriger wird für die FDP. Und dann gibt es innere Ursachen und damit verknüpft die Frage: Wie geht die Partei mit diesem Wandel um?
Und?
Während den starken Zeiten der FDP lag der Fokus darauf, den linken Sozialismus zu bekämpfen, für Rechtsstaat, Demokratie, Marktwirtschaft, sozialen Ausgleich und eine starke Armee einzustehen. In den Fünfziger, Sechziger und Siebzigerjahren konnte sich die FDP mit diesen Themen profilieren. Globalisierung, Umweltdimension, gesellschaftliche Veränderungen und Urbanisierung machen es für die FDP viel schwieriger, ihren Weg zu finden.
Wie soll die Partei darauf reagieren?
Die Partei hat es verpasst, sich grundsätzlich zu fragen: Was heisst heute Freiheit? Stehen wirklich Freiheit und Selbstbestimmung aller, auch der nächsten Generation im Zentrum? Was heisst Gemeinsinn? Und was heisst Verantwortung, Selbstverantwortung und auch Mitverantwortung? Die FDP hat zu wenig über diese drei Schlüsselbegriffe nachgedacht. Hier geht es um die Grundfragen des politischen Liberalismus.
Steht die Partei nicht mehr für Freiheit ein?
Doch, aber hat sie die Freiheit aller im Fokus? Ich hatte starke Mühe, als sich die FDP Anfang Jahrtausend teilweise ins Schlepptau der SVP begab, ökologische Anliegen vernachlässigte und in das Lied der Staatsverteufelung einstimmte. Da war vom Republikanismus der Partei nicht mehr viel spürbar. Die Geschichte der FDP zeichnete sich auch durch das Einstehen für «ihren» Staat und für den sozialen Ausgleich aus.
Und das soll wieder mehr im Vordergrund stehen?
Ja, heute wäre das Verhältnis zum Staat, der Freiheiten ebenso schützt wie gefährdet, wieder neu zu reflektieren.
Das sind eine Menge Fragen!
Es sind Fragen, die sich die FDP stellen muss, um ihren Weg für die Zukunft zu finden.
Freiheit tönt so einfach. Wird es konkret, wird es kompliziert. Beispiel das Verhältnis zu Europa: Ist es die Freiheit des Staates, die Souveränität oder ist es die Freiheit der Menschen und der Wirtschaft, zu reisen und Handel zu betreiben?
Der liberale Gedanke kann nur ein Ansatz, ein Jalon sein. Und klar gibt es in einer liberalen Partei unterschiedliche Haltungen. Hier kommt ein wichtiger Aspekt des Liberalismus zum Tragen: Wie gehen wir miteinander um? Toleranz, Empathie, einander Zuhören – Liberalismus bestimmt nicht nur das «was», sondern auch das «wie». Die Partei muss um diese Fragen ringen. Und natürlich kann die liberale Ideenwelt zu unterschiedlichen Lösungen führen, weil der Weg der Freiheitsförderung oft mit Abwägungen und Kompromissen von Freiheitsinteressen gepflastert ist.
Wie soll die Partei mit abweichenden Meinungen umgehen?
Die Vielzahl der Meinungen gilt es zu akzeptieren. Wichtig ist, dass sich die Partei auf einer Position findet – und dass die unterlegene Seite damit leben kann und zum Thema auch mal schweigt.
Freisinnige können besonders schlecht schweigen. Petra Gössi hatte mit vielen Heckenschützen zu kämpfen.
Jedenfalls gab und gibt es immer wieder Freisinnige, die besser geschwiegen hätten. Das Bewusstsein, dass sie ihrer Partei gegenüber auch Verantwortung tragen, ist nicht bei allen gleichermassen ausgebildet. Ich erachte es als verhängnisvoll, wenn Parlamentarier ihre Partei nur unterstützen, wenn sie ihnen gerade nützt. Für die Partei schwerwiegender erweist sich, dass nach meinem Eindruck zu wenige Leaderfiguren aktiv vorangehen und den Freisinn zusammenhalten. Was ich immer bedauerte: Die FDP hat kaum mehr Intellektuelle in Führungspositionen. Ein Beispiel nur, aber wohl symptomatisch: Früher waren viele Staatsrechtsprofessoren Mitglieder der FDP. Denken Sie etwa an Max Imboden und Rico Jagmetti! Da war Staatspolitik noch ein Thema in der FDP!
Retten die Professoren das Land?
Natürlich nicht, es geht nicht um Professoren. Aber eine Partei braucht Denker, welche Ideen entwickeln und intellektuell ausstrahlen, gerade in einer Zeit des herausfordernden Wandels.
Wieso ist die FDP nicht mehr attraktiv?
Vielleicht weil sie sich zu wenig mit der Freiheit aller – heute und morgen – auseinandergesetzt und entsprechende Lösungen vorgeschlagen hat? In den Nullerjahren störten sich viele am Schmusekurs mit der SVP. Vor allem gibt es für wichtige Herausforderungen mehr als eine einzige liberale Antwort!

2007 stösst Rhinow mit Alt Bundesrat Samuel Schmid (SVP) zum 100-jährigen Jubiläum der «Solothurner Zeitung» an.
Gerade im Europa-Dossier machte die FDP einen äusserst zerstrittenen Eindruck. Zeigt sich hier nicht, dass die Partei auseinanderbricht?
Das hoffe ich nicht. Aber es stimmt, die FDP hat beim Rahmenabkommen ein bedauerliches Bild abgegeben. Freiheit bedeutet auch freien Austausch, insofern spricht viel für offene Grenzen. Freie Märkte sprechen für ein Abkommen mit der EU. Es gibt aber auch Gründe dagegen. Wichtig ist, dass die Partei um eine Position ringt und sie dann auch verteidigt und durchzieht. Ich habe nicht begriffen, wieso sich einzelne Exponenten mit ihrer Anti-Haltung profilieren mussten. Das ist schädlich für die Partei.
Hat die Partei nicht seit je ein Problem mit Europa?
Das hängt mit dem Wandel zusammen. Die Partei wurde stark mit der Verteidigung des Staates, den sie gründete. In den Statuten von 1874 heisst es «… pflegt den eidgenössischen Staatsgedanken» und «… setzt sich ein für soziale Reformen.» Durch die Internationalisierung ändert sich diese Ausgangslage: Es reicht nicht mehr, dass wir eine stabile Schweiz mit einer starken Armee verteidigen. Das Land muss sich öffnen, um die Freiheitsziele zu fördern. Dieser Wandel hat die Partei durchgeschüttelt. Ein Teil hat festgehalten am alten Bild einer souveränen Schweiz. Der andere Teil hat erkannt, dass wir unsere Werte und Interessen auch dort vertreten müssen, wo über unser Schicksal entschieden wird, also auch auf der internationalen Ebene.
Dieser Graben innerhalb der Partei war unvermeidbar?
Es musste wohl so kommen. Den national-konservativen Teil hat die FDP inzwischen weitgehend an die SVP verloren. Indem die Partei die ökoliberalen Elemente vernachlässigte, hat sie massgeblich zu verantworten, dass es die Grünliberalen gibt.
Vor allem weil SVP und GLP in aktuellen Fragen sehr klar positioniert sind. Kann es sich eine 15 Prozent Partei noch leisten, solche Flügelkämpfe auszutragen?
Wenn die FDP eine Zukunft haben will, dann muss sie den Ausgleich finden zwischen der Meinungspluralität, die es in jeder Partei gibt, und der Positionierung im politischen Alltag. Wenn sie das nicht schafft, wird es sehr schwierig. Es gibt aber noch ein anderes FDP-Problem.
Nämlich?
Das Auseinanderklaffen zwischen Partei und Fraktion ist in keiner anderen Partei so stark. Nach meinem Eindruck haben Parteibeschlüsse in der Bundesfraktion kein starkes Gewicht. Dies zeigte sich etwa in der Ökologiefrage, wo die Partei viel fortschrittlicher war als die Fraktion. Erst dank dem grossen Einsatz von Petra Gössi ist es gelungen, Parteibeschlüsse in die Fraktion zu tragen. Und das nahmen ihr offenbar gewisse Kreise übel.
Was ist nun entscheidend? Die harte Hand einer Parteichefin?
Das braucht es sicher auch, aber nicht in erster Linie. Liberale Geister reagieren eher auf Integrationskunst, Überzeugungsarbeit, Leadership. Das Präsidium muss den verschiedenen Strömungen eine Heimat vermitteln; sie darf nicht spezifisch in eine Richtung ziehen. Ich habe verschiedene Fraktionschefs erlebt, die dieses Kunststück meisterten, vor allem Ueli Brehmi und Pascal Couchepin.
Sie propagieren das Bild der FDP als Volkspartei. Funktioniert das heute noch?
Die FDP war immer eine Volks- und eine Elitepartei, sie hat beides verbunden. Das war ihre Stärke. Als Volkspartei setzte sie sich für die Freiheit und Selbstbestimmung aller Menschen ein – und nicht nur für eine Klasse. Deshalb ist es falsch, wenn Liberalismus ausschliesslich als Wirtschaftsliberalismus missverstanden wird – so wichtig dieser auch ist. Und sie ist eine Elitepartei, weil sie immer gute Köpfe hatte, die vorangegangen sind und die Partei gezogen haben. Die FDP lebte immer mehr von den Köpfen als vom Programm. Diese Köpfe sind nach meinem Eindruck dünn gesät.
Die Parteienlandschaft ist derart zersplittert: Sollte die FDP nicht einfach eine Wirtschaftspartei sein?
Das wäre nicht mehr der schweizerische Freisinn. Eine Partei muss sich zwar anpassen, aber sie kann ihre Wurzeln nicht verleugnen. Freiheit muss im Staat, in der Gesellschaft und in der Wirtschaft gedeihen. Man muss den Mut haben, eine gewisse Haltung durchzuziehen, auch wenn der Wind entgegenbläst.
Sie sprachen Petra Gössis Ökowende an. Die Kritiker ihres Kurses fühlen sich seit dem gescheiterten CO2-Gesetz bestätigt.
Offenbar ist es nicht gelungen, die liberalen Aspekte und die Notwendigkeit eines Kompromisses herauszustreichen. Aber die Partei kommt nicht darum herum, einen gewissen Kurs durchzuziehen. Sonst wird die Partei unglaubwürdig.

Petra Gössi war seit 2016 Parteipräsidentin der FDP.
Die Ökowende finden Sie immer noch richtig, auch wenn ein Grossteil der FDP-Wähler das CO2-Gesetz abgelehnt hat?
Natürlich. Hier geht es um eine Grundsatzpositionierung. Was heisst Freiheit für die nächsten Generationen? Man kommt nicht darum herum, gewisse Konsequenzen zu ziehen. Freiheiten müssen abgewogen werden. Nehmen wir ein aktuelles Beispiel.
Bitte.
Die Freiheit eines aktuellen Gastrounternehmers, eines Betreuungsbedürftigen im Altersheim und desjenigen, der wegen Corona im Spital auf der Intensivstation liegt: Hier geht es um unterschiedliche Freiheitsinteressen. Wenn sich eine Partei nur auf die Freiheitsinteressen des aktuellen Gastrounternehmers konzentriert, dann gibt sie die Kernidee der Freiheit auf. Eine Partei hat auch eine Verantwortung für die anderen. Es ist falsch, diejenigen in eine linke Ecke zu drängen, die sich für eine Mitverantwortung für die anderen stark machen.
Im Detail ist es schon etwas komplizierter.
Ich weiss. Für die FDP ist auch das mediale Umfeld ein Problem. Eine FDP, die für die Freiheit und Selbstbestimmung aller Menschen einsteht, kommt nicht darum herum, Abwägungen vorzunehmen. Das führt dazu, dass die FDP oft keine plakativen Lösungen liefern kann. Wer intern einen Kompromiss schliessen muss und für den Ausgleich einsteht, gilt als schnell einmal als schwammig.
Die NZZ, das Hausblatt der FDP, fordert eine klare Positionierung der FDP.
Die guten Ratgeber, die der FDP raten, zum «wahren» Liberalismus zurückzukehren, pflegen ihre Sicht als die einzig richtige zu qualifizieren. Meistens bleiben sie aber die Antwort schuldig, wessen Freiheit heute und morgen wie zu schützen ist.
Zwischen GLP, SVP und Mitte: Braucht es die FDP überhaupt noch?
Klar. Die SVP hat ein anderes Profil. Die FDP muss sich gegen alle Bestrebungen abgrenzen, welche der Freiheitsidee zuwiderlaufen, seien diese links, rechts oder konservativ. Die FDP beisst gerne gegen links, aber gegen rechts hat sie oft Beisshemmungen.
Wären Sie heute jung: Würden Sie der GLP beitreten?
Diese Frage ist hypothetisch. Die Antwort hinge auch von den Personen ab, welche die Partei repräsentieren und die es zu wählen gilt. Wenn sie die liberale Geisteshaltung ebenso ernst nimmt wie die ökologische Gesinnung würde sie einen Sympathiebonus geniessen …
Ist die Zeit des prägenden Freisinns nicht einfach vorbei?
Hoffentlich nicht!
Was passiert mit der FDP, wenn sie den zweiten Bundesratssitz verliert?
Dann wird sie vielleicht wieder kämpferischer. Es gibt den schönen französischen Spruch: «reculer pour mieux sauter».