Jérôme Thiesson: «Ja, wir Fussballer werden verwöhnt»

Vorurteile sind schnell gefällt – doch wie denken die Betroffenen selbst darüber? Am Sonntag treten im Brügglifeld erstmals das Frauen- und das Männerteam des FC Aarau hintereinander auf. Anlässlich des Doppelspieltags haben FCA-Goaliefrau Seraina Friedli (28) und FCA-Verteidiger Jérôme Thiesson (34) Klischees und Vorurteile über den Fussball des anderen Geschlechts gesammelt – und das Gegenüber zur Antwort aufgefordert. Beide legen Wert darauf, dass die Behauptungen nicht zwingend ihrer persönlichen Meinung entsprechen.

Friedli behauptet: «Eine Fussballmannschaft ist ein gesellschaftliches Vorbild, wenn es um den Umgang mit kultureller Vielfalt geht.»

Thiesson: Oh, wir fangen mit einem positiven Statement an? Sehr schön! Ja, ich empfinde das genauso. Auf jeden Fall sollte es so sein, weil diese Be­gegnungen auch einer der schönsten Nebenaspekte des Fussballs sind. In meinen ganzen Jahren im Fussball, ob als Junior oder Profi: Innerhalb der Mannschaften prallten immer wieder verschiedenste Kulturen, Religionen und Werte aufeinander. Aber ein Problem war das nie, ganz im Gegenteil. 

Thiesson behauptet: «Frauenfussball ist weniger schnell und dynamisch als Männerfussball.»

Friedli: Das ist nicht von der Hand zu weisen und biologisch bedingt. Man vergleicht aber beispielsweise auch nicht die Aufschlagsgeschwindigkeit von ­Roger Federer mit derjenigen von Belinda Bencic. Deswegen mag ich den Vergleich nicht. Unsere Art, Fussball zu spielen, hat andere Qualitäten.

Friedli behauptet: «Fussballer verbringen gleich viel Zeit vor dem Spiegel und beim Coiffeur wie auf dem Trainingsplatz.»

Thiesson: Wow, gleich zwei «Vorur­teile» auf einmal … Punkto Coiffeur gibt es schon Typen, die mir das Gegenargumentieren schwierig machen. Hier in Aarau ist das aber völlig im Rahmen. Es gibt ein bis zwei Kandidaten, die im Spint neben ihren Gels und Haar­bändeli gerne einen separaten Spiegel hätten. Aber als Ausgleich gibt’s dann noch solche wie mich, bei denen nicht mehr viel geht (lacht).

Wogegen ich mich aber vehement wehre, ist die Zeit auf dem Trainingsplatz: Unsere Arbeit beschränkt sich nicht nur darauf. Wir Spieler investieren sehr viel in Prävention, betreiben viel «Vortraining», Physiotherapie etc. Zudem werden Analysen zum eigenen Spiel und dem des Gegners immer wichtiger. Das passiert im Plenum oder auch individuell, auf verschiedensten Medien und braucht auch viel Zeit. Also: Der moderne Fussballer hat pro Tag weit mehr Arbeitszeit als eineinhalb Stunden Training auf dem Platz.

Thiesson behauptet: «Frauenfussball ist viel weiter im Umgang mit Homosexualität als der Männerfussball.»

Friedli: Absolut einverstanden. Im Frauenfussball ist Homosexualität ­keine Besonderheit.

Friedli behauptet: «Fussballer machen nach der Karriere erst einmal lange Ferien, bevor sie an ihre ­berufliche Zukunft denken.»

Thiesson: Das höre ich zum ersten Mal (lacht)! Aber ja, jetzt wo Du es sagst, ­einige meiner Bekannten haben das tatsächlich so gemacht. Dass sich Spieler über die Zukunft Gedanken machen, passiert meines Erachtens jedoch immer mehr. Zum Glück, denn vor allem in der Schweiz und insbesondere in der Challenge League hat man nach der Karriere kein finanzielles Polster für die ersten zwei, drei Jahre nach der Karriere angelegt – geschweige denn ausgesorgt. Umso mehr freut es mich, dass der FC Aarau kürzlich mit dem «Athletes Network» eine Kooperation eingegangen ist – die Personen dort setzen sich genau mit diesem Thema auseinander.

Thiesson behauptet: «Frauenfussball ist nur ein Hobby.»

Friedli: In der Schweiz trifft das leider auf den grössten Teil der Leistungsfuss­ballerinnen immer noch zu – zumindest, was die finanzielle Entschädigung betrifft. Vom Trainingsaufwand her unterscheiden wir uns allerdings kaum vom Männerfussball, doch bei uns kommen noch Arbeits- und Schulbelastung dazu. Dadurch fehlt häufig wichtige Zeit für die Regeneration. Es kann daher durchaus als Hobby betrachtet werden, das nahezu 100 Prozent der «Freizeit» einnimmt.

Friedli behauptet: «Fussballer können keine Bälle pumpen, da ihnen schon im jungen Alter alles abge­nommen wird.»

Thiesson: Völlig richtig. Oft werden wir verwöhnt, was solche Dinge anbelangt. Früher gab es pro Mannschaftskader drei bis vier Spieler unter 22, welche diese «Jöbli» dann über Jahre erledigt haben. Heute sind in jedem Team mindestens zehn Spieler in diesem Alter oder jünger – und jedes Jahr kommen wieder neue nach. Also lange muss man sich als Spieler heutzutage nicht mehr mit dem Bällepumpen und anderen Dingen aufhalten.

Thiesson behauptet: «Frauenfussball ist eher etwas für robuste, für harte Frauen.»

Friedli: Eine gewisse Robustheit und Härte hilft auch uns in den Zwei­kämpfen, wobei ich Robustheit von Körperfülle klar trennen möchte. Es wird mittlerweile auch immer mehr ein Augenmerk auf die Athletik gelegt. Wie im Männerfussball haben aber auch wir kleine, feine, filigrane Spielerinnen, die durch ihre Technik herausstechen können.

Friedli behauptet: «Fussballer kommen nach der Karriere ein zweites Mal auf die Welt, wenn sie erstmals eine 42-Stunden-Woche bewältigen müssen.»

Thiesson: Selber habe ich diese Erfahrung noch vor mir und kann es nur schwer beurteilen. Ich kenne ehemalige Teamkollegen, die Schwierigkeiten hatten, sich an den neuen Alltagsrhythmus zu gewöhnen. Veränderungen gehören zum Leben dazu, sind selten einfach und vielleicht kommt man auch das ein oder andere Mal auf die Welt. Das Wichtigste ist, irgendwann den Schalter umlegen zu können – wenn das gelingt, sind Startprobleme okay.

Thiesson behauptet: «Frauenfussball ist langweilig und emotionslos, weil Rivali­täten nicht so gelebt werden. Motto: Es ist ja nur ein Spiel.»

Friedli: Dem muss ich widersprechen. Wer seine ganze Freizeit für den Fussball «opfert», gibt sich an Spieltagen nicht mit ein bisschen «Tschütterle» zufrieden. Wer daran zweifelt, darf sich gerne am Sonntag im Brügglifeld vor Ort ein Bild davon machen.

Viel los im Brügglifeld

Am Sonntag steht den Besucherinnen und Besuchern im Stadion Brügglifeld ein langer Fussballnach­mittag bevor. Erst sind die Männer des FC Aarau an der Reihe. Um 14.15 Uhr empfangen sie den Tabellenletzten aus Kriens. Stehplatztickets sind regulär für 21 Franken erhältlich. Ab 15.30 Uhr ist der Eintritt ins Brügglifeld kostenlos. Zuschauer des Männermatches können also getrost stehen- und sitzenbleiben, wenn sich die FC-Aarau-Frauen ab 16.30 Uhr mit dem Grasshopper Club Zürich messen, dem aktuellen Tabellenzweiten der «Women’s Super League». Auch Neuankömmlinge brauchen für den Match der Frauen nichts zu be­zahlen, es besteht freier Eintritt. Die Cateringstände bleiben auch über das zweite Spiel hinweg geöffnet.

Für beide Partien gilt die Covid-Zertifikatspflicht, der Zugang wird nur in Kombination mit einem amtlichen Ausweis gestattet. Von 12 Uhr bis 14.30 Uhr wird vor dem Stadion (Seite Bachstrasse) voraussichtlich ein Testcenter zur Verfügung stehen.