
Wie tief hat uns dieses Virus sinken lassen, wir bestellen Wein und eine Decke dazu
Der Himmel über dem Pilatus ist schwarzgrau, der Vierwaldstättersee schäumt weiss auf, ein tollkühner Windsurfer tanzt dem trägen Kursschiff um die Nase, das Thermometer zeigt 11 Grad, und die Serviceangestellte sagt mit einem für TV-Werbung reifen Lächeln: «Vielleicht wird es reinregnen.»
Floskelhaft mit «kein Problem» geantwortet, lehnen wir die Apéritiffrage leicht mürrisch ab, verlangen trotzig die Flaschenwein-Karte und wünschen uns dicke Glasscheiben rundum. Nix mit guter Miene zum bösen Spiel, denn soeben fliegt mein Notizzettel davon.
Im Luzerner Hotel-Restaurant Hermitage sind wir gelandet, nahe am schmucken Meggen wenige Busminuten vom Stadtzentrum entfernt. Die Unterscheidung von Hotel und Restaurant ist entscheidend, denn die Terrassen-Glastüren im Restaurant für die Hotelgäste sind links und rechts geschlossen, hier herrscht eine wohltuende Wärme.
Ein gläserner Windschutz hier, ein Zeltdach da
Im öffentlichen Restaurant hingegen bleiben sie beidseits offen: So, dass der Wind bösekalt über die Terrasse ziehen kann, so, dass der Anschein einer Freiluft-Terrasse gewahrt bleibt. Es sind die kleinen Tricksereien, die sich die verzweifelten Restaurantbesitzer dieser Tage einfallen lassen müssen. Dort ein halbes Zelt, da ein Windschutz, dort ein Ofen: Solche Dinge können auf einer Terrasse durchaus stehen.
Das «Hermitage» lässt zwar die Türen offen, hat aber gegen die Seeseite Glaswände montiert, die mehr abdecken als offen lassen. Ohne Mantel, Decke und Schal ist’s dennoch unangenehm, aber selbst nach der Mittagszeit um 14.30 Uhr sind zwei Drittel der Tische besetzt. Da gibt es Kaffee und Kuchen für Mutter und Tochter, dort hinten Snacks und Prosecco für eine fröhliche Frauenrunde, da ein Schachbrett und Weisswein für zwei Herren.
Beim ersten Schluck ziehen wir den Schal fester
Einmal Tagesteller und der Zander soll es an unserem Tisch sein, egal, ob der Fisch aus Estland kommt. Mit einer Flasche Weisswein vom Weingut Letten aus dem benachbarten Meggen wird vielleicht auch dieses Essen ein kleines Fest. Beim ersten Schluck ziehen wir den Schal fester, lauschen alsbald dem Regen, der sanft auf das Dach schlägt. Nennen wir es ein «romantisches Trommeln»!
Das «Hermitage» lockt mit seiner Terrassenoase aus der Stadt hinaus. In der Luzerner Altstadt aber tanzt auf den Terrassen der Bär. Selbst am Samstagabend, am 1. Mai, als das Thermometer nach sechs Stunden Dauerregen auf 8 Grad sinkt, ist am linken Reussufer kaum ein freier Tisch zu finden. Die Luzerner Stadtarchitektur beflügelt die Ausgehwilligen: Die Promenade ist mit grossen Lauben ausgestattet, wo es Platz für viele Dutzend Tische hat und munter Fondue und Schnitzel mit eingestecktem Schweizer Fähnchen gegessen wird. Wenige Meter neben diesen traditionellen Restaurants fangen die Pubs und Bars die Kunden ab, rollen ihre Sonnenstoren aus, stellen dicke Sonnenschirme ans Ufer. Hier baut man auf die Erfahrung mit Rauchern und Raucherinnen.
Doch die Leute sind nicht da, um hastig eine Zigarre zu rauchen und dann wieder im warmen Bauch der Bar zu verschwinden. Sie sind gekommen, um zu bleiben. Die Stimmung ist vergleichbar mit jenem bezaubernden Moment, wenn die städtische Samstagnachmittagsgesellschaft von einem Sommergewitter überrascht wird und sich unverrichteter Dinge gedrängt unter halbwegs dichten Sonnenschirmen wiederfindet. Kaum davongekommen beginnt man mit Unbekannten links und rechts zu scherzen, trinkt freudig und rasch, als hätte man gerade den Weltuntergang überlebt.
Der Weltuntergang muss warten
Auf den kalten Terrassen ist nun auch jedes kleine Bier eine grosse Feier, jeder vorbeikommende Gast ein neuer Trinkspruch wert, auch wenn nicht der Weltuntergang, sondern bloss die Renaissance des Lebens gefeiert wird. Aus Trotz und weil es dermassen kalt ist, trinken die Leute noch schneller als sonst.
Da unterhält ein Betrunkener eine ganze Runde, dort lacht man sich über die Tische zu – und im eleganten «Schweizerhof» haben sich zwei zum Date gefunden, sie im kurzen Rock, er geschmückt wie ein Papagei. Man trinkt Hugo und Aperol Spritz, tut so, als wäre alles wie immer – und bettelt nach fünf Minuten am Nachbartisch schlotternd: «Ist diese Decke frei?»
Der Bann ist gebrochen, die Terrassen erobert
Wie tief hat uns dieses Virus sinken lassen? Wir trotzen sogar unserem eigenen Klima, setzen uns in dunkle und feuchte Lauben, wo wir uns sonst nur bei 30 Grad im Schatten hinwagen, essen eingehüllt in Decken. Wir tun es nicht im fröhlichen Wissen «einmal und nie wieder», denn dieser Frühling ist launisch und heimtückisch wie kein zweiter. Kaum ist es mal warm, regnet es fünf Tage später zwei Tage durch, kaum bringt die Sonne die Balkonpflanzen zum Blühen, droht ihnen eine Frostnacht, und es schneit runter auf 1000 Meter. Wer den Wintermantel Anfang April, als alles euphorisch von Sommer sprach, im Estrich verstaute, hat ihn längst wieder hervorgeholt.
Selbst das Tief Eugen konnte den Terrassengängern am Dienstag und gestern Mittwoch nichts anhaben. Der Bann ist gebrochen, die Terrassen erobert. Die Kalte Sophie mitsamt den Eisheiligen erwarten wir am 11. Mai auf einer Terrasse mit einer eisgekühlten Flasche Champagner – eingehüllt in den Wintermantel.