Briten in Sorge wegen neuer Corona-Mutante – doch wie gefährlich ist AY.4.2?

Gesundheitsminister Sajid Javid warnt vor täglich 100’000 Covid-Fällen. Selbst der stets Frohsinn verbreitende Boris Johnson wiegt bedenklich den Kopf: «Hoch» seien die Neuinfektionen auf der Insel, räumte der Premierminister am Donnerstag ein. «Wir behalten sie täglich sehr genau im Auge.» Unterdessen konzentrieren britische Wissenschafterinnen und Wissenschafter ihre Aufmerksamkeit auf AY.4.2, eine Fortentwicklung der hochinfektiösen Delta-Mutation.

Die erstmals im Juni identifizierte Variante ist Fachleuten zufolge mittlerweile für jede zehnte Covid-Ansteckung auf der Insel verantwortlich. Offenbar liegt ihre Übertragbarkeit um 10 bis 15 Prozent höher als bei der ursprünglichen, aus Indien stammenden Delta-Variation. Dies sei zwar «ärgerlich, aber nicht katastrophal», glaubt Jeffrey Barrett vom Wellcome Sanger-Institut in Cambridge.

Hält an der Freiheit fest: der britische Premier Boris Johnson.

Hält an der Freiheit fest: der britische Premier Boris Johnson.

Peter Morrison / AP

Offenbar konnte sich die neue Variante entwickeln, weil das Virus im Königreich seit Monaten weiter verbreitet ist als bei den europäischen Nachbarn. Hinzu kommt ein technischer Vorsprung: Weltweit nimmt kaum ein Land so viele Genom-Analysen vor wie Grossbritannien. Dadurch ist der Kenntnisstand über die Entwicklung von Sars-CoV-2 relativ hoch.

AY.4.2 trägt zum Unbehagen über die hohen Zahlen in Grossbritannien bei. Die Inzidenz stieg am Donnerstag auf 454, durchschnittlich hat das Land täglich 130 Covid-Tote zu beklagen. In Schottland liegt die Mortalität derzeit um 30 Prozent über den vergleichbaren Sterbezahlen in den Jahren 2015-19. Auf englischen Intensivstationen belegen an Covid-19 Leidende 15 Prozent der Betten. In der ersten Oktoberwoche waren dem Statistikamt ONS zufolge eine Million Briten infiziert, womit der bisherige Höchststand vom Januar erreicht war.

Expertinnen und Experten fordern ein Umdenken

Einstweilen aber sieht Johnson keinen Grund, neue Beschränkungen einzuführen, wie sie von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern gefordert werden. Schon jetzt müsse dringend «Plan B» aktiviert werden, fordert Matthew Taylor vom Verband der Spitalträger. Zu den Covid-Massnahmen solle das verpflichtende Tragen von Mund-Nasen-Schutz, die Benutzung von Impfnachweisen und die Rückkehr ins Homeoffice gehören. Hingegen Johnson: «Wir halten an unserem Plan A fest».

Der gilt seit Juli: Zunächst gab die für England zuständige Londoner Regierung, später auch die Regionen Schottland, Wales und Nordirland sämtliche staatliche Corona-Einschränkungen auf. Bestehen blieben lediglich Empfehlungen: So sollen in geschlossenen Räumen sowie in Bussen und Bahnen auch weiterhin Masken getragen werden; zudem sind die Briten gehalten, wann immer möglich Distanz zu halten. In der Praxis wirken viele Restaurants, U-Bahnen und Museen, als habe es Covid-19 nie gegeben: keine Maske, nirgends. Im weitaus grössten Bevölkerungsteil England werden Impfnachweise kaum verlangt, die entsprechende App lässt auf sich warten.

Durchseuchung könnte im Winter helfen

In der vergangenen Woche registrierte das Gesundheitssystem NHS 6,5 Millionen Covid-Tests, die Positivrate lag bei fünf Prozent. Paul Hunter von der Norwicher Uni UEA verwies darauf, dass besonders unter Minderjährigen auf der Insel deutlich mehr getestet wird als in vielen vergleichbar grossen Staaten. «Mindestens die Hälfte unserer Fälle» seien Kinder oder Teenager, bei denen der Krankheitsfall fast nie eine Behandlung im Spital nötig macht.

Francois Balloux vom Genetikinstitut am Londoner University College hofft darauf, die hohe Durchseuchung werde auch ihr Gutes haben: Schliesslich würden derzeit Infizierte im Winter nicht erneut angesteckt – oder ihr Krankheitsverlauf falle leichter aus. «Das könnte die Belastung der Spitäler reduzieren.»