
Aarau-Trainer Patrick Rahmen: «Wir müssen die Kritik annehmen»
Das Corona-Virus bremst den Schweizer Fussball aus – und mit ihm den FC Aarau: Frühestens am 20. März in Winterthur hat die Mannschaft von Trainer Patrick Rahmen die nächste Gelegenheit, die bisher trübe Bilanz in dieser Saison zu korrigieren. Zeit, an den Defiziten zu arbeiten. Und die Gelegenheit, mit dem Cheftrainer der Krise auf den Grund zu gehen.
Alle Welt redet vom Corona-Virus. Woran leidet eigentlich der FC Aarau?
Patrick Rahmen: Uns allen ist klar, dass der bisherige Saisonverlauf den internen und externen Ansprüchen nicht genügt. Der achte Tabellenrang und die fehlenden Punkte sind jedoch an mehreren Aspekten festzumachen.
Das krasseste Symptom sind die 44 Gegentore, der schlechteste Wert in der Challenge League. Was umso mehr erstaunt, da Aarau mit 37 Treffern die drittbeste Offensive stellt.
Zahlen lügen nicht. Um in den nächsten Spielen zu punkten, müssen wir die Anzahl Gegentreffer minimieren. Bei genauerem Hinschauen zeigt sich jedoch, dass die vielen Gegentore unregelmässig verteilt sind. Abgesehen von den individuellen Fehlern ist kein Muster erkennbar, das in jedem Spiel auftaucht. In den ersten zwei Saisonspielen haben wir nur ein Tor kassiert, in den nächsten drei Partien elf. Dann folgten drei Spiele mit zwei Gegentoren, ehe wir in vier Spielen 13 Treffer kassierten. Das zeigt einerseits, dass die Fähigkeit und die Qualität für eine defensive Stabilität vorhanden sind, andererseits schaffen wir es noch nicht, unseren Plan konstant und nachhaltig umzusetzen.
Vor zwei Wochen gegen Kriens (4:4) debütierte der neue Abwehrchef Francois Affolter. Ist seine Verpflichtung das Eingeständnis, dass vom übrigen Personal in der Innenverteidigung keiner das Zeug zum Anführer hat?
Wir haben ihn geholt, weil er über grosse Erfahrung verfügt. Er ist unbelastet und mit viel Ambitionen zu uns gekommen. Und er soll uns genau diese teils fehlende Konstanz geben.
Wie haben die anderen Innenverteidiger Marco Thaler, Giuseppe Leo und Nicolas Schindelholz auf den Affolter-Transfer reagiert? Pikiert oder verständnisvoll?
Jeder dieser Jungs hat in dieser Saison schon gute Spiele abgeliefert. Allerdings hatten auch sie, wie wir alle, ihre schwachen Momente. In unserer Situation hat keiner das Recht, Ansprüche zu stellen, ohne diese zuvor auf dem Platz zu rechtfertigen.
Nach dem Kriens-Spiel, dem letzten vor der Corona-Pause, trat Präsident Alfred Schmid vor die Mannschaft und redete den Spielern ins Gewissen. Wie kam es dazu?
Im Anschluss an das Spiel diskutierten Sandro Burki (Sportchef; d. Red.) und ich wie immer mit dem Präsidium die anstehende Woche. Dabei äusserte Alfred Schmid den Wunsch, einige Worte an die Mannschaft zu richten. Das ist sein gutes Recht.
Wer Alfred Schmid kennt, der weiss: Bis er den Spielern ins Gewissen redet, muss sehr viel passieren. Die Situation ist also angespannt.
Der Präsident hat allen Grund, unzufrieden zu sein. Aber er war alles andere als kontraproduktiv, sondern hat den Spielern und dem Trainerstab sein Vertrauen ausgesprochen, verbunden mit der Forderung, dieses nun in Form von Punkten zurückzuzahlen.
Hat die Standpauke bei den Spielern etwas bewirkt?
Diesen Eindruck habe ich, ja. Wenn ein Präsident, der sich in der Regel zurückhält, vor die Mannschaft tritt, löst das etwas aus. In den folgenden Trainings habe ich gespürt, dass die Spieler an der Ehre gepackt sind, sie haben auf das GC-Spiel gebrannt. Leider ist dieser Effekt durch die Spielabsagen vorerst auf Eis gelegt. Sobald es weitergeht, liegt es an uns, den Erfolgshunger und die Motivation unserem Präsidenten und der ganzen Stadt zu beweisen.
Und dann traf sich das Präsidium auch noch mit dem Spielerrat – ohne Sie. Dabei wurde auch über die Beziehung zwischen Trainer und Mannschaft gesprochen. Sind das nicht erste Anzeichen eines Vertrauensverlustes gegenüber Ihrer Person?
Überhaupt nicht. Ich war über dieses Gespräch im Voraus informiert.
Lässt es Sie tatsächlich kalt, dass die Klubführung mit den Spielern über Sie spricht, ohne dass Sie dabei sind?
Nochmals: Ich war im Voraus über alles informiert und im Anschluss haben wir in einem offenen Dialog darüber gesprochen. Mein Eindruck, dass die Mannschaft gewillt ist, gemeinsam mit mir aus der Krise herauszufinden, hat sich bestätigt. Im Training stimmen Einsatz und Kommunikation, in den Spielen brechen wir nicht auseinander und die Mannschaft nimmt Veränderungen wie zuletzt den Systemwechsel an. Das sind die entscheidenden Parameter, die zeigen, dass das Verhältnis zwischen Team und Trainerstab intakt ist.
Ihnen haftet das Klischee des «lieben Kumpeltrainers» an, der zu wenig hart durchgreift. Stört Sie das?
Nein, weil ich guten Gewissens entgegnen kann, dass das nicht stimmt. Ich bin kein Polteri, der in der Öffentlichkeit dazwischen haut und Unruhe stiftet. Gibt es Dinge, die mir nicht passen, regle ich das unter vier Augen, gegebenenfalls auch mit der nötigen Schärfe. Ich spüre aber, dass die Spieler selbstkritisch genug sind und die Fehler in erster Linie bei sich selber suchen.
Stichwort Selbstkritik: Wenn ein Klub mit grossen Ambitionen wie der FC Aarau dort steht, wo er momentan steht, haben nicht nur die Spieler, sondern auch der Trainer und der Sportchef keinen guten Job gemacht.
Diese Kritik müssen wir annehmen und sie ist teilweise korrekt. Wir hinterfragen uns ständig, unabhängig von Erfolg oder Misserfolg. Momentan liegt der Fokus darauf, gemeinsam aus der gefährlichen Situation zu kommen und mit einem Platz in der oberen Tabellenhälfte die Saison versöhnlich abzuschliessen. Ich bin überzeugt, dass wir das schaffen werden. Danach werden wir in einer kritischen Gesamtanalyse alle Karten auf den Tisch legen.
Wenn wir uns an den Saisonstart zurückbeamen: Was würden Sie anders machen?
Ich bin der Letzte, der behauptet, alles richtig zu machen. Ich habe genauso wie alle anderen zur unbefriedigenden Situation beigetragen. Fehler gehören dazu. In der letzten Saison haben wir bewiesen, dass wir es schaffen, Lösungen für den Ausweg aus der Krise zu finden.
Hätten Sie sich vor der Saison vehementer gegen die Schwachstellen im Kader wehren müssen? Stichwort Abwehrchef, Stichwort mehr Routine im Goalieteam?
Das sind Fragen, die mich nach der Saison beschäftigen werden. Klar ist: Ich werde bald 51 und habe einen geballten Rucksack an Erfahrung, doch ausgelernt hat man nie im Leben.
Fällt Selbstkritik schwer? Sie treffen ja Ihre Entscheidungen mit der Überzeugung, dass sie richtig sind.
Nein, die eigene Arbeit zu hinterfragen, ist immer der erste Schritt in der Aufarbeitung. Dazu gehört, sich nicht vor der Kritik von aussen zu verstecken, sondern diese anzunehmen.
Dazu passt, dass Sie kürzlich einen FCA-Fan zu sich ins Büro eingeladen haben. Warum das?
Er hat mir einen Brief geschrieben, in dem er gewisse Dinge kritisierte und wie er sie anders machen würde. Ich habe ihm geantwortet, er dürfe mir das gerne unter vier Augen sagen. Wir haben uns dann eine Stunde lang unterhalten, ich habe ihm meine Sicht, er mir seine erläutert. Es war interessant und lehrreich, einmal diese Sicht zu erfahren. Am Schluss haben wir uns die Hand gegeben.
Andere Trainer würden nie einen Fan in ihr Büro lassen.
Als Trainer muss ich gewappnet sein für unbefriedigende Phasen, es kann nicht immer bergauf gehen. Das habe ich vor allem von meinem Vater gelernt, der selber Fussballer und Trainer war, und der uns Kindern eingetrichtert hat, dass schwierige Phasen nur mit Demut und harter Arbeit zu meistern sind. Ich habe kein Problem mit Kritik, solange sie sachlich und anständig formuliert ist. Leider wird man als Trainer auch mit Worten unter der Gürtellinie beworfen. Doch meine Haut ist mittlerweile zu dick, um das an mich ranzulassen.
In Deutschland läuft gerade die Diskussion über die Macht der Fans. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie sehen, dass Hoffenheim-Mäzen Dietmar Hopp von zahlreichen gegnerischen Fankurven als Hurensohn beleidigt wird und auf Transparenten ins Fadenkreuz genommen wird?
Der Hintergrund ist ja der, dass die Fans sich mit den Beleidigungen Gehör für ein anderes Anliegen verschaffen wollen. Trotzdem stelle ich in Frage, ob dies der richtige Weg zum Dialog ist. Es wird ein Mann angegriffen, der sich dazu entschieden hat, mit seinem Vermögen den Sport in seiner Region zu unterstützen. Tradition im Fussball ist sehr wichtig, sie bringt Leidenschaft und Emotionen ins Stadion, aber Tradition allein garantiert keinen Erfolg, dafür braucht es nun mal auch Geld. Es ist aus moralischer und ethischer Sicht wichtig, dass man die Anliegen der Fans diskutiert, einfach nicht auf diese Art und Weise.
Wie weit dürfen Fans mit ihrer Kritik gehen?
Die Fans sind der Hauptgrund, warum wir unseren Job ausüben können, sie dürfen ihre Meinung kundtun. Die Grenze sind persönliche Beleidigungen. Dass es auch mal kracht, das gehört dazu, solange der Umgang respektvoll bleibt. Ich spüre hier in Aarau tagtäglich, dass der FCA die Menschen in der Region bewegt. Unsere Fans haben ein feines Gespür, sie sehen, dass sich die Mannschaft in dieser Saison nie hat hängenlassen.
Klarer FCA-Sieg im Geister-Testspiel
Was tun, um in der Corona-Zwangspause den Rhythmus nicht gänzlich zu verlieren? Genau – Testspiele. Wie viele andere Klubs der Super und Challenge League simuliert auch der FC Aarau den Meisterschaftsbetrieb in dieser Form. Am Freitagabend war der SC Dornach (2. Liga interregional) zu Gast im Brügglifeld, Zuschauer waren aus den bekannten Gründen keine zugelassen. Die Solothurner Amateure entpuppten sich als der erwartet dankbare Gegner für die FCA-Profis, die sich mit dem klaren 5:0-Erfolg eine Portion Selbstvertrauen sicherten. Marco Schneuwly, Yvan Alounga, Donat Rrudhani, Petar Misic und Olivier Jäckle trafen für Aarau, das mit einer effizienten Chancenverwertung zweistellig hätte skoren können. In der ersten Halbzeit spielte auf der Zehnerposition Shkelzen Gashi, der sich der Match-Fitness annähert, jedoch einen diskreten Auftritt hinlegte. Am Samstag 14. März, spielt der FC Aarau beim Super-League-Schlusslicht FC Thun (14 Uhr). Sollte danach der Ligabetrieb weiterhin ausfallen, wäre St. Gallen der nächste Testgegner. (wen)