
Am Publikum vorbei: Anspielzeiten-Frust in der Challenge League
Ein Vater will mit seinen zwei Kindern (mittleres Schulalter) ans Heimspiel des FC Aarau. Als er sieht, dass die Partie erst um 20.30 Uhr beginnt, resigniert er: «Viel zu spät für einen Dienstagabend.» Bei einem Heimweg von 40 Minuten wären die Kinder erst kurz vor halb 12 im Bett. Und auch der Vater, der jeden Morgen um sechs das Haus verlässt, käme am nächsten Tag müde zur Arbeit.
Das beschriebene Beispiel ist fiktiv – gut möglich jedoch, dass es sich am Dienstag vergangener Woche im einen oder anderen Haushalt mit FCA-Sympathie genau so abgespielt hat. Wohl ebenfalls nichts geworden wäre es mit dem Matchbesuch, wenn das Heimspiel gegen den FC Wil um 18 Uhr angefangen hätte: Zu früh für den Vater, der jeweils um 17 Uhr das Büro verlässt und dann im Feierabendverkehr fast eine Stunde bis nach Hause hat.
Mehr noch: Bei Spielbeginn um 18 Uhr öffnet das Stadion mindestens eine Stunde vorher – ein Problem für all jene Heimklubs, die im Kassenhäuschen, bei der Platzzuweisung und in den Verpflegungsständen auf ehrenamtliche, berufstätige Helfer angewiesen sind. Und: Für Gästefans ist die rechtzeitige Anreise ein Ding der Unmöglichkeit, wenn sie nicht für ihren Klub einen halben Tag Ferien nehmen wollen. Die Anhänger des FC Wil, die vergangene Woche ins Brügglifeld kommen wollten, blieben aus Protest zuhause.
Die Wahl zwischen Pest und Cholera
Ja, die Anspielzeiten. Im Fussball ein heisses Eisen, seit TV-Sender Millionen (in den Topligen gar Milliarden) für die Übertragung der Spiele ausgeben, dafür im Gegenzug bestimmen wollen, an welchen Tagen und zu welcher Uhrzeit angepfiffen wird. In der Schweizer Super League werden alle fünf Spiele pro Runde im Pay-TV gezeigt: Viele Fans laufen Sturm gegen die teils zuschauerunfreundlichen Anspielzeiten, so fragten YB-Fans kürzlich die TV-Macher auf einem Plakat: «Und was arbeitet Ihr?»
Die Klubs hingegen fügen sich, schliesslich zahlt «Blue» pro Saison 1,8 Millionen Franken – für die meisten Profiklubs hierzulande lebensnotwendiges Geld. In der zweitklassigen Challenge League kassieren die Klubs je 500000 Franken, pro Runde wird ein Spiel im Free-TV (Blue zoom) übertragen: An Wochenendspieltagen jenes am Freitag um 20.30 Uhr, unter der Woche jenes am Dienstag um 18 Uhr.Die restlichen Partien finden abseits der Livekameras statt.
Und hier setzt die Kritik der Challenge-League-Klubs mit den höchsten Zuschauerzahlen (Winterthur, Aarau, Xamax) an. «TV-Präsenz ist wichtig für uns zweitklassige Klubs, um diese Spiele geht es nicht», stellt Andreas Mösli klar. Unverständlich für den Geschäftsführer des FC Winterthur indes ist die Tatsache, dass auch für die Anspielzeiten der anderen vier Partien einer Runde die Swiss Football League (SFL) den Ton angibt: Unter der Woche am Dienstag oder Mittwoch um 18 Uhr oder 20.30 Uhr. Am Wochenende am Freitag 18 Uhr oder 20.30 Uhr, am Samstag 18 Uhr oder 20.30 Uhr und am Sonntag 14.15 Uhr oder 16.30 Uhr. Vor der Saison durften die Klubs aus diesen Anspielzeiten ihre Wünsche angeben – ohne Garantie auf Erfüllung.
Doch was heisst hier «Wünsche»? Die Anspielzeiten an Werktagen (18 Uhr oder 20.30 Uhr) sind die Wahl zwischen Pest und Cholera. In Aarau nahm man 20.30 Uhr. Doch wenig überraschend war die eingangs erwähnte Partie gegen Wil schlechter besucht als die anderen Heimspiele seit Saisonbeginn. «Die späte Anspielzeit dürfte einige hundert Leute, vor allem Familien mit Kindern, gekostet haben», sagt FCA-Präsident Philipp Bonorand.
Er stimmt Mösli zu, der fordert, dass man sich punkto Anspielzeit wieder mehr an den Bedürfnissen des Publikums orientiert. Die Konsumentinnen und Konsumenten der Challenge League tun dies im Stadion, zu ihnen sollte man Sorge tragen. Und die Heimklubs wissen für sich nun mal am besten, an welchen Tagen und zu welcher Tageszeit die meisten Fans in Stadion kommen.
SFL hält trotz Publikums-Rückkehr an Corona-Praxis fest
Vor Corona gab die SFL für «Nicht-TV-Spiele» ein Zeitfenster vor, innerhalb dessen die Klubs die Anspielzeit selber wählen konnten. Kein Klub, dem etwas an seinen Fans liegt, würde an Werktagen ein Heimspiel freiwillig um 18 Uhr oder 20.30 Uhr anpfeifen lassen. Eher zwischen 19 und 20 Uhr: So kommt das Publikum mit hungrigem Bauch ins Stadion und konsumiert viel. Und Kinder schlafen am nächsten Tag nicht über dem Schulpult ein.
Doch obwohl seit dieser Saison die Spiele wieder vor Publikum stattfinden, hält die SFL an der Corona-Praxis fest und schränkt die Wahlmöglichkeiten für die Klubs extrem ein. Warum? Die SFL antwortet mit drei Gründen: Erstens wolle man statt Wildwuchs Kontinuität in die Anspielzeiten reinbringen. Zweitens werden von allen Spielen Daten und Ereignisse in Echtzeit zusammengetragen für das «Live Center» der SFL. Wenn möglichst viele Partien gleichzeitig stattfinden, erleichtert das die Betreuung der Spiele personell und finanziell.
Zuschauerarme Klubs kümmert das Thema kaum
Der dritte und letzte Grund ist gemäss SFL eine Momentaufnahme: Als anfangs Saison in der Challenge League gleich vier Teams in Corona-Quarantäne und Spiele (auch fürs TV geplante) abgesagt werden mussten, war die Reaktion der SFL: Sie strich (bis auf zwei) alle Sonntagsspiele – vorerst bis Ende dieses Jahres. Die betroffenen Matches wurden auf eine der unbeliebten Anspielzeiten am Freitagabend verlegt: So hat man für einen erneuten Ausfall eines TV-Spiels Ersatz. Und nur so können an Dienstagen Partien nachgeholt werden, weil jede Mannschaft zwischen zwei Einsätzen zwei volle Tage Erholungszeit braucht.
Der drohende Terminstress als Grund für die Absage fast aller Sonntagsspiele leuchtet ein. Aber die zwei erstgenannten Gründe? Eine Frage der Perspektive. Ob sich künftig etwas ändert, sprich die Klubs wieder mehr Mitspracherecht erhalten? Die zuschauerstarken unter ihnen plädieren dafür. Die anderen kümmert das Thema kaum. Aus Schaffhausen (Zuschauerschnitt 800) heisst es etwa: «Über die Anspielzeiten haben wir uns bislang keine Gedanken gemacht.»