
BAG interpretiert Zahlen falsch: Eine Blamage, die nicht folgenlos bleiben sollte
Wenn es einen allmächtigen Covid-Dämon geben würde, einen Geist – oder wer lieber will: eine Instanz –, die alles weiss, dann wäre eine der dringendsten Fragen: «Wo stecken sich die Leute überhaupt an?» Denn das wäre der Stein des Weisen, auf den sich unbedingt zielführende Massnahmen gründen lassen. Den Beweis dafür lieferte der englische Mediziner John Snow bereits 1855, als er einen Trinkwasserbrunnen in Soho als Quelle des Erregers einer in London grassierenden Cholera-Epidemie identifizierte. John Snow montierte in der Broad Street einen Pumpenschwengel ab und die Epidemie stoppte.
Den Covid-Dämon gibt es nicht. Also sind wir immer noch auf Vermutungen angewiesen, wo die Ansteckungen stattfinden. «Vermutungen» klingt erst mal nicht so gut. Man könnte sie auch Hypothesen nennen. Gestützt werden sie durch theoretische Überlegungen. Ausgangspunkt der Infektion sind die Tröpfchen, dann kommt man automatisch auf Massenansammlungen mit ungehemmtem Treiben (kein Abstand) und hoher Lautstärke (Schrei-Kommunikation mit entsprechend hoher Tröpfchenfabrikation).
Am Freitagnachmittag lieferte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf Betreiben des Schweizer Fernsehens eine schöne Tabelle. Sie basierte auf Meldungen, welche Ärztinnen und Ärzte seit dem 16. Juli auf den Formularen gemacht hatten. (Abgefragt wurde offenbar die «Exposition», die konkrete Frage wäre dann etwa: «Wo glauben Sie, haben Sie es sich geholt?» Und weil man darauf in der Regel keine Antwort weiss: «Wo waren Sie und gab es dort Fälle?» (In der Zwischenzeit ist die Tabelle korrigiert, Datenbasis: 793 Angaben zwischen dem 16. Juli und dem 1. August, die Clubs mit 1,9 Prozent und Bars/Restaurant mit 1,6 Prozent rangieren jetzt weit hinten).
Die schöne, aber falsche Tabelle vom Freitag lieferte: 42 Prozent der Ansteckungen in Clubs, 27 Prozent in Bars und Restaurant und ein paar Zerquetschte «zu Hause, am Arbeitsplatz …». Es bot sich an, das zu summieren unter dem Term «Ausgang» und weil es so schön 69 Prozent ergab, war auch die Headline schon klar: «Zwei von drei Ansteckungen im Ausgang». Dass die Hälfte der Angaben fehlte, wurde erwähnt, «störte» aber eher.
Denn die Daten «passten» so gut. «Wir» glaubten sie noch so gerne. (Mit «wir» ist natürlich die Mehrheit der Bevölkerung, welche das Wochenende nicht in Clubs und Bars verbringt, gemeint.)
Dann stellte sich heraus: Alles falsch. «Ein Fehler», sagte das BAG. Nun, Fehler können passieren. Nicht so schlimm, sagte auch Lukas Engelberger, Präsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz, die Kantone handelten sowieso lieber nach dem, was sie bei sich beobachteten.
Fest steht: Das BAG hat sich blamiert. Eine Behörde, die solche «Fehler» produziert oder zulässt, hat sich disqualifiziert.
Schweizer vertrauen ihren Behörden. Das ist auch gut so. Denn ein Staat, in dem Misstrauen grassiert, funktioniert nicht. Wir sollen den Behörden vertrauen – können oder dürfen.
Natürlich spielt eine Rolle, dass es so gut gepasst hat. Zahlen, die «gut passen», die nehmen wir auch lieber zur Kenntnis als solche, die unseren Erwartungen nicht entsprechen. Und auf die wir nicht reagieren können. Wie etwa dem Umstand, dass sich laut den richtigen Zahlen die allermeisten (27,2 Prozent) im Kreis der Familie anstecken. Der eigenen Familie kann man aber auf längere Zeit schlecht ausweichen. „Andere“ folgen dann mit 12,5 Prozent.
Sollen wir den Zahlen weniger glauben? Die Alternative «Daten – Gesunder Menschenverstand» hat sich ja bei der Diskussion, ob die Epidemiologen zu viel Macht hätten, bereits angeboten.
Heute ist «Simulation» – das (automatische) Sammeln von möglichst vielen Daten und der Versuch, durch entsprechendes Modellieren einen Prozess plausibel nachzuberechnen, eine akzeptierte wissenschaftliche Methode. Google, Facebook und Amazon machen ja Ähnliches: Sie berechnen aus ihren Daten Hypothesen unseres (Konsum-)Verhaltens.
Daten haben bei uns einen hohen Status. Gegen Daten argumentieren ist schwierig. Dabei sind auch «Daten» nichts, was vom Himmel fällt. Sie müssen erhoben werden. Und noch vorher: Man muss wissen, was ein Datum ist, bevor man sammelt.
Wir haben nicht viel mehr als Theorien, Hypothesen und Daten. Theorien müssen logisch möglichst widerspruchsfrei sein und auch als Erklärung eines Phänomens akzeptiert werden. Hypothesen müssen plausibel sein und ihr Zusammenhang mit der Theorie muss möglichst klar sein. Und die Daten müssen darauf hinterfragt werden, wie sie zustande kommen. Und wie relevant sie statistisch sind.
Die vernünftigste Forderung, wie man die Epidemie verfolgen kann, wäre immer noch: Eine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung jeden Tag zu testen. Aber der Glaube daran ist offenbar noch zu wenig stark.