
«Bricht jemand in mein Zuhause ein, ist es, als würde ich körperlich verletzt»
Einbrecher treiben im Bezirk Zofingen gerade ihr Unwesen: Die Kantonspolizei Aargau verzeichnet seit Mitte September rund ein Dutzend Einbrüche in der Region. Betroffen waren bislang Einfamilienhäuser in Rothrist, Strengelbach und Oftringen. Während die Bewohner schliefen, drangen die Täter mit der Fensterbohr-Methode ins Haus ein. Sie durchsuchten die Räume und stahlen Wertsachen. Sind die Diebe verschwunden, bleiben bei den Bewohnern oft Angst und Unsicherheit zurück. Der Psychotherapeut Martin Miller* (67) spricht im Interview über die seelischen Auswirkungen eines Einbruchs und wann Betroffene einen Therapeuten aufsuchen sollten.
Herr Miller, welche Folgen hat ein Einbruch für die Psyche der Opfer?
Martin Miller: Ein Einbrecher zerstört gewaltsam meine Privatsphäre – besonders, wenn er meine Einrichtung durchwühlt und ein Chaos hinterlassen hat. Die Räume, in denen ich wohne, umgeben mich wie mein Körper. Bricht jemand in mein Zuhause ein, ist es, als würde ich körperlich verletzt. Es kommt nahezu einer Vergewaltigung gleich. Betroffenen wird bewusst, dass sie schutzlos einem Fremden ausgeliefert waren. Dass sie zum Opfer geworden sind. Das Vertrauen in die eigene Sicherheit ist erschüttert. Von einer Sekunde auf die andere wurde das Leben arg gestört. Diese Menschen fühlen sich hilflos, empört und wütend. Angstgefühle kommen ebenfalls auf.
Insbesondere, wenn man während des Einbruchs im Haus war und geschlafen hat.
Die Betroffenen fragen sich dann: Was, wenn ich aufgestanden und dem Einbrecher begegnet wäre? Hätte er mir etwas getan? Sie kommen zum Schluss, mit dem Leben davongekommen zu sein. Der Effekt auf die Psyche ist aber der gleiche, wenn der Täter während meiner Abwesenheit im Haus war: Er hat meine eigenen Grenzen verletzt; meine Integrität. Das gilt in allen Kulturen als Verbrechen. Schlimm ist es für die Betroffenen, wenn sich der Täter ins Ausland absetzt und die Polizei ihn nicht mehr verhaften kann. Dann bleibt die Genugtuung aus. Die Betroffenen bekommen keine Gerechtigkeit.
Wie lange können die Angstgefühle nach dem Vorfall anhalten?
Das hängt von der psychischen Widerstandsfähigkeit des Betroffenen ab; der sogenannten Resilienz. Manche Menschen erholen sich schnell von einem solchen Schock. Andere kämpfen mehr damit. Sie leiden unter anhaltend negativen Gefühlen und müssen eventuell therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.
Woran merke ich, dass ich nach einem Einbruch einen Therapeuten benötige?
Wenn Panikattacken oder paranoide Ängste auftreten. Die Betroffenen müssen dann ständig an den Vorfall denken. Die Angst verfolgt sie. Sie versuchen, ihr Zuhause mit allen möglichen Mitteln zu sichern. Die Aufmerksamkeit ist stark erhöht. Überall lauert eine Bedrohung. Die Betroffenen werden misstrauisch, verlieren das Vertrauen in andere. Sie leiden unter Albträumen und befinden sich in einem chronischen Stresszustand. Daraus können sich erhebliche psychische Schäden entwickeln.
Passiert das häufig?
Das hängt wie gesagt von der psychischen Konstitution des Einzelnen ab. Ich habe in meiner Laufbahn eine Person behandelt, die nach einem Einbruch seelische Beschwerden bekam. Ein solcher Vorfall kann auch ein Auslöser für ein tiefer liegendes Problem sein: Er kann negative Erfahrungen aus der Vergangenheit reaktivieren. Damit müssen wir uns dann in der Therapie auseinandersetzen.
Wie gross sind die Chancen, dass die Opfer über die Folgen des Einbruchs hinwegkommen?
Es ist an sich keine schwierige Sache – vorausgesetzt, es liegt keine schwerwiegende Störung aus der Vergangenheit vor. Die Betroffenen benötigen einen mitfühlenden Therapeuten. Er muss ihnen die Möglichkeit geben, sich auszudrücken. Wenn sie erzählen können, wie sie sich während und nach dem Einbruch gefühlt haben, lässt sich das Problem überwinden.
Was können Betroffene unmittelbar nach dem Vorfall unternehmen?
Nach einem Einbruch ruft man ja zuerst die Polizei. Wichtig ist dann, dass der Polizist oder die Polizistin mitfühlend reagiert. Dass er oder sie Verständnis dafür zeigt, dass es den Betroffenen nicht nur um den materiellen Verlust geht. Sie müssen berichten können, was vorgefallen ist und welche Gegenstände ihnen gestohlen wurden. Danach kann es helfen, mit Freunden über das Erlebte zu sprechen. Weiter kann es hilfreich sein, einen Experten zu beauftragen, der Sicherheitsmassnahmen am Haus oder der Wohnung installiert. Können Betroffene danach langsam zur Tagesordnung zurückkehren, zeigt dies meist, dass der Vorfall ohne seelische Folgen bleibt.
* Martin Miller arbeitet als Psychotherapeut und Coach in Uster. Bis 1980 war er als Primarschullehrer tätig. Bekannt wurde er mit einem Buch über die Lebensgeschichte seiner Mutter, der Kindheitsforscherin Alice Miller.
