
Brittnau: Ein Dorf steht zusammen
Der Storch auf dem Kirchturm ist ausgeflogen und die Berge, die man bei schönem Wetter von Brittnau aus sehr gut sieht, sind in dicke Wolken gehüllt. Im Dorf weist die Feuerwehr die Autos ein. Menschenschlagen bewegen sich Richtung Sporthalle. Schon im Vorfeld wird klar, in der Kirche hätten sie nie Platz gefunden. Bereits eine halbe Stunde vor Beginn der Feier sind alle 900 Stühle besetzt. Viele Trauernde stehen an den Seitenwänden oder auf der Balustrade. Es sind über 1200 Menschen, die an der offiziellen Trauerzeremonie von den vier tödlich verunglückten Turnern Abschied nehmen. Der Männerturnverein ist komplett anwesend, alle tragen ihren grünen Trainer. Delegationen des Zofinger Kreisturnverbandes und des Aargauischen Turnverbandes sind ebenso vor Ort wie Vertreter des Schweizerischen Alpenclubs. Leise klassische Musik ist zu hören.
Bitte um Mut und Kraft
Die Musikgesellschaft Brittnau begleitet die Trauerfeier. Pfarrer Max Hartmann tritt ans Rednerpult: «Es tut so weh, es geht ans Herz.» Die Lawine, die abging, löse auch bei den Trauernden eine Lawine aus, sagt er weiter. «Wir können es nicht fassen.» Bernhard Kaufmann, der stellvertretende Pfarrer aus Strengelbach, zündet darauf für jeden der vier Verstorbenen eine grosse weisse Kerze an. «Mach uns Mut und gib uns Kraft», betete er zu Gott. «Du hast gesagt, Du bist bei uns, dann wenn wir Dich brauchen.» Die Trauer ist bedrückend, die Blicke vieler gehen ins Leere.
«Wir sind immer noch schockiert, erschüttert und tief betroffen», sagt Viktor Andenmatten, Präsident des Männerturnvereins Brittnau. «Aschi, Petu, Bruno und Wenggu fehlen. Es wird nie mehr so sein, wie es einmal war.» Er schildert, wie die Gruppe seit 14 Jahren mit demselben erfahrenen Bergführer zu einer verschworenen Einheit wurde. «13 Jahre kamen sie alle immer gesund zurück, nun kam alles anders.» Er schildert, wie der an der Trauerfeier anwesende Bergführer am Tag vor dem Unglück von einem Gegenhang aus den Berg studiert. Mit seinen Freunden die Route bespricht. Am Mittwochmorgen, 15. März, entscheiden sie gemeinsam, eine noch sicherere Route zu wählen. Die Bedingungen sind fantastisch. Alle freuen sich auf die Abfahrt. Nach dem zweiten Halt fahren der Bergführer und mit Abstand ein Turner voraus. Sie halten wie abgemacht, nun fahren vier andere los, die letzten zwei warten noch. Plötzlich ertönt ein seltsames, nicht definierbares Geräusch. Die Schneemassen lösen sich, die zwei Wartenden können sich zu einem Feldvorsprung retten. Von dort aus müssen sie zuschauen, wie ihre Freunde mehrere hundert Meter mitgerissen und und von den Massen verschüttet werden. Auch der erste Turner beim Bergführer wurde 30 Meter in die Tiefe gerissen, doch die Lawine gab in wieder frei. «Leben und Tod sind so nah zusammen», sagt Andenmatten weiter. Er schildert, wie die Überlebenden am Tag danach ein Bild ihrer Freunde ausdrucken, Kerzen anzünden und in einer Kapelle in Österreich um sie trauern. «Wir sind tief traurig, aber wir sind auch dankbar», sagt Andenmatten abschliessend. «Wir verlieren unendlich viel, aber nie die Zeit, die wir mit ihnen verbringen durften.»
Das letzte gemeinsame Bild
«Conquest of Paradise» von Vangelis ertönt aus den Lautsprechern. Ein Stück, zu dem die Turner jeweils ihre Schaukelringübungen zeigten. Die Menschen weinen, schluchzen, halten sich. Auf der liebevoll dekorierten Bühne steht ein Bild der vier Verunglückten. Es entstand in den Tagen in Österreich. Ob es Zufall ist, dass die Vier nebeneinanderstehen, bleibt ebenso unbeantwortet, wie die Frage, warum es ausgerechnet sie traf.
Unter den Trauernden sind auch die beiden Gemeinderäte von Brittnau und Strengelbach und politische Vertreter aus umliegenden Gemeinden. Das Care-Team, das bis kurz vor der Trauerfeier helfend unterstützte, ist in Brittnau nicht anwesend. «Das Dorf steht still», sagt Frau Gemeindeammann Astrid Haller. «Ich bin dankbar, dass wir diese Fassungslosigkeit gemeinsam ausdrücken und verarbeiten können.» Brittnau stehe nicht nur in guten, sondern auch in schweren Zeiten zusammen, das gebe Hoffnung für alle. Das Unglück werde Spuren hinterlassen, so wie die Vier ihre Spuren in der Gemeinde hinterlassen haben. «Es gibt keinen besseren Ort als diese Sporthalle, um den vier Turnern zu gedenken», sagt Haller. Denn die Vier hätten sie nicht nur für ihren Sport genutzt, sondern sich teilweise auch stark für den Nachwuchs und den Bau der Halle eingesetzt. «Ich glaube fest daran, dass Brittnau einen Weg findet, den Schicksalsschlag gemeinsam zu meistern.»
Hunderte Menschen haben in den letzten Tagen den Hinterbliebenen ihr Mitgefühl ausgedrückt. Sei es mit Einträgen in die Kondolenzbücher oder mit Kerzen, Karten und anderen Zeichen. «Es braucht ein Netz, das da ist, wenn es gebraucht wird», sagt Pfarrer Max Hartmann. «Wenn Sie davon überzeugt sind, dass auch Sie zu diesem Netz gehören, dann helfen Sie mittragen.»
Pfarrer Bernhard Kaufmann betete am Schluss für die Hinterbliebenen, die Überlebenden und die ganze Trauergemeinde: «Gott gib uns die Kraft, sie brauchen unsere Hilfe um wieder Fuss zu fassen.»