Christoph Bieri: «Wer im Schwingen nicht neutral sein kann, soll lieber auf eine Wanderung gehen»

Sie haben in Ihrer Karriere bisher 99-mal einen Kranz gewonnen. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie das hören?
Christoph Bieri: Dass einer noch fehlt (lacht).

Die Kranzfestsaison ist vorbei. Das heisst, Sie machen weiter, um es in den illustren 100er-Klub zu schaffen?
Ja, im Moment ist das der Plan. Ich will diesen einen Kranz noch gewinnen. Ich hatte dieses Ziel bereits im vergangenen Jahr und ich hatte es in diesem Jahr. Aber es hat nicht geklappt. Ich glaube, wenn ich es nicht weiter versuche, wenn ich diesen einen Kranz nicht mehr gewinne, dann holt mich das irgendwann ein.

Wieso hat es bisher nicht geklappt? 
Ich habe körperlich im Vergleich zu früheren Jahren mehr Probleme. Der Rücken macht mir immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Ich kann weniger trainieren und habe deshalb nicht die gleich gute Form. Das hat auch Einfluss auf den Kopf. Wenn man weiss, dass man gut trainiert hat, dass die Form super ist, geht man mit einem ganz anderen Selbstvertrauen in den Wettkampf.

Die körperlichen Probleme werden mit bald 34 Jahren nicht weniger.
Das bin ich mir schon bewusst (lacht). Aber ich will ja auch nach der Karriere einigermassen fit bleiben. Ich mache dann nicht plötzlich nichts mehr. Natürlich ist das Schwingtraining intensiv. Aber dort kann ich auch ein paar Abstriche machen. Ich kenne die Abläufe, die Schwünge. Ich bin überzeugt, bis im kommenden Jahr eine Form für weitere Kranzgewinne erarbeiten zu können.

Zurück zu den 100 Kränzen: Ist es falsch zu behaupten, dass Ihnen der Eintritt in den Klub nicht gerade geschenkt wird?
Ich will keine Geschenke.

Formulieren wir es anders: Die Einteilung war Ihnen nicht an jedem Fest gut gesinnt.
Der Hauptgrund, dass es noch nicht geklappt hat, ist meine körperliche Verfassung. Ich hatte in dieser Saison Chancen, den 100. Kranz zu gewinnen.

Werden wir noch konkreter: In anderen Sportarten werden die Stars gefeiert und wird ihnen vom Verband der rote Teppich ausgerollt. Bei Ihnen hat man nicht das Gefühl, dass dies passiert.
Ich bin einer, der den eigenen Weg konsequent geht, und einer, der sagt, wenn ihm etwas nicht passt. Es ist wohl so, dass ich deswegen nicht nur gefördert werde.

Man hört, es gäbe Differenzen zwischen Ihnen und Stefan Strebel, dem Technischen Leiter der Nordwestschweizer. Gehen Sie deshalb nicht mehr an die Zusammenzüge der Kader-Athleten?
Es stimmt, dass ich nicht mehr an die Zusammenzüge gehe. Das hat zwei einfache Gründe: Ich bin seit längerer Zeit nicht mehr zufrieden, wie es mit der Einteilung in der Nordwestschweiz läuft. Da spreche ich nicht von meiner Einteilung. Das ist mir wichtig, zu betonen. Es geht darum, wenn ich junge Schwinger vergleiche. Da fällt auf, dass die Aargauer gegenüber den Solothurnern und Baselbietern bevorteilt werden.

Und der zweite Grund?
Mir fällt auf, dass gewisse Schwinger aus unserem Teilverband extrem destruktiv gegen mich antreten. Es geht für mich nicht auf, dass sie im Wettkampf gegen mich arbeiten, und dann sollen wir an einem Zusammenzug den Teamgedanken zelebrieren. Für mich ist Schwingen ein Einzelsport. Natürlich kann eine gewisse Gruppendynamik entstehen. Aber man kann diese nicht erzwingen.

Sie erwarten, dass die Gegner für Sie schwingen?
Halt! Das habe ich so nie gesagt. Ich will sicher nicht, dass einer freiwillig für mich ins Sägemehl liegt. Aber ich erwarte einen fairen Kampf. Und wenn es dann nur darum geht, von mir davonzurennen und gar nicht um den Sieg geschwungen wird, stört mich das.

Ihre Kritik an der Technischen Kommission der Nordwestschweiz ist deutlich. Dabei ist die Einteilung doch immer ein Politikum. Das hat man auch am Eidgenössischen wieder erlebt. Wie soll das anders werden?
Ich bin der Meinung, dass es neue Wege braucht. Warum nicht eine Software programmieren, welche die Einteilung anhand von zahlreichen messbaren Faktoren macht? Man könnte die bisherigen Erfolge, aber auch die Saisonresultate etc. einfliessen lassen. Das würde auch die Menschen aus der Schusslinie nehmen. Eine Software ist neutral. Zumindest wenn sie im Ausland programmiert wurde (lacht).

Und falls weiterhin Menschen einteilen?
Dann müssen wir schauen, dass es Menschen tun, die neutral bleiben können. Solche, die am Morgen aufstehen mit dem Ziel, einen fairen Wettkampf zu ermöglichen für alle Schwinger. Ohne regionale Vorzüge. Ohne Verbandsinteressen. Wer das nicht schafft, sollte zum Beispiel lieber auf eine Wanderung gehen, statt die Einteilung zu machen oder Kampfrichter zu sein.

Finden Sie, dass die Technische Kommission der Nordwestschweiz nicht neutral ist?
Man spürt zumindest starke Aargauer Strömungen. Aber das liegt nicht an den Schwingern. Die können nichts dafür. Und ich will deren Leistungen damit auch nicht schmälern. Aber als Solothurner oder Baselbieter würde ich mir schon manchmal Fragen stellen, wenn ich die Notenblätter vergleiche.

Könnten Sie selbst neutral sein?
Wohl eher nicht. Darum werde ich nach meiner Aktivkarriere nicht nach diesem Amt streben.

Die kritisierten Jobs sind Ehrenämter. Kann man überhaupt etwas verlangen von Menschen, die etwas freiwillig tun?
Darum bin ich der Meinung, dass man diese Jobs ansprechend bezahlen sollte und nicht nur mit einer Bratwurst und einem Stück Brot. Dann könnte man die Diskussionen auch offener führen. Wenn einer in der Privatwirtschaft seinen Job nicht gut macht, hat er ein Problem. Beim Schwingen ist es heute so, dass die, welche kritisieren, als Querulanten abgestempelt werden. Dabei geht es um Fairness. Das Schwingen boomt aktuell insbesondere aufgrund von Tugenden wie Bodenständigkeit, Ehrlichkeit etc. Diese Werte werden überall kommuniziert, jedoch oft nicht gelebt.

Und wer bezahlt die Löhne?
Wenn ich lese, dass der Eidgenössische Verband die TV-Rechte fast verschenkt, kann ich das nicht verstehen. Und es gibt zum Beispiel auch keinen Verbandssponsor. Man sollte diese Möglichkeiten ausschöpfen und gezielt investieren.

Was halten Sie von der Idee, den Videobeweis im Schwingen einzuführen?
Das ist eine Überlegung wert. Es werden ja bereits viele Gänge gefilmt.

Aber kann der Mensch, der das Video sichtet, neutral sein?
Vielleicht müsste es ein Tessiner machen, oder ein Franzose oder ein Italiener (lacht).

Würde dem Schwingsport nicht das «Schnurri-Thema» fehlen?
Diskussionen gehören dazu. Aber wenn man mehr tun kann für die Fairness, sollte man es tun. Und man sieht es im Fussball, die Schnurri-Themen bleiben, auch wenn nun eine Technologie beweist, ob der Ball über der Torlinie war oder nicht.

Wird Ihre Kritik im Nordwestschweizer Verband gehört?
Nein, es findet praktisch keine Kommunikation mehr statt.

Diese Zeitung hat vor dem Eidgenössischen geschrieben, Sie hätten sich mit dem Verband zerstritten.
Zum Streiten braucht es immer zwei Parteien. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich Streit habe mit dem Verband. Ich äussere Kritik, ja. Aber offenbar gibt es im Verband Menschen, die damit nicht umgehen können.

Wären Sie bereit, die Probleme offen zu diskutieren?
Irgendwann schon. Aber erst nach der Karriere. Als ich mich entschieden habe, nicht mehr zum Kader zu gehören, hat nie auch nur einer der Funktionäre das Gespräch mit mir gesucht. Das sagt ziemlich viel aus.

Sie spüren zu wenig Wertschätzung?
Wenn ich in der Zeitung lese, dass Stefan Strebel sagt, er verpasse lieber das Ziel von fünf Kränzen und habe zwei neue Eidgenossen als fünf, die bald aufhören, ist das absolut respektlos. Gegenüber allen Schwingern im höheren Alter. Diese haben über Jahre viel für den Teilverband getan und das ist der Dank?

Wenn die Jungen das lesen, könnten sie denken, Sie missgönnen ihnen den Erfolg.
Niemals! Im Gegenteil: Ich habe extrem Freude, dass es in Zug mit Andreas Döbeli und Joel Strebel zwei neue Eidgenossen gab. Oder nehmen wir Nick Alpiger. Seine Geschichte mit der Verletzung ist brutal. Das geht mir sehr nahe. Er war in einer beneidenswerten Form, und dann dieser Rückschlag.

Im Schwingsport gibt es viele Traditionalisten. Denen werden Ihre Aussagen nicht gefallen.
Das bin ich mir bewusst. Es wird auch wieder welche geben, die mir ihren Unmut zeigen werden. Aber damit kann ich leben. Es geht um Fairness. Und ich finde, jeder Schwinger hat Fairness verdient. Schliesslich investieren wir alle sehr viel in den Sport. Da kann es nicht sein, dass der Erfolg oder Nichterfolg fremdbestimmt wird.

Zur Person


Christoph Bieri hat in seiner Karriere 22 Kranzfeste gewonnen, darunter zweimal das Nordwestschweizerische und zweimal auf dem Weissenstein. Er hat dreimal an einem Eidgenössischen den Kranz geholt, dazu an jedem der fünf Teilverbandsfeste und an jedem der sechs Bergfeste. Insgesamt ist er bisher 99-mal mit Eichenlaub geschmückt worden. Das alles macht den 33-jährigen Aargauer zu einem der erfolgreichsten Schwinger der Nordwestschweiz. Er ist Geschäftsführer der Grasag AG, einer Firma für landwirtschaftliche Produkte.