Contact Tracing am Anschlag: Kantone haben teils Mühe, Kontakte nachzuverfolgen

Die Zahl der Corona-Neuansteckungen steigt wieder stark an: Erstmals seit dem Frühling wurden letzte Woche über 1000 Fälle an einem Tag gemeldet. Und ein Ende der Zunahme ist nicht anzunehmen. Die Corona-Taskforce des Bundes rechnet damit, dass noch im Oktober die Zahl von 2000 Neuansteckungen pro Tag erreicht werden könnte. Dies schreibt das Expertengremium in einem neuen Lagebericht, der Ende Woche veröffentlicht, aber kaum beachtet wurde.

Bisher löste die Zunahme der Ansteckungen wenig Besorgnis aus. Denn die Zahl der Covid-Patienten, die ins Spital mussten, verharrte auf vergleichsweise tiefem Niveau, insbesondere weil sich momentan vor allem junge Leute infizieren. Die Taskforce warnt nun aber, dass die Zahl der Hospitalisationen und der Todesfälle stärker ansteigen könnte. «Über die letzten vier Wochen nahmen die Ansteckungen in den höheren Altersklassen deutlich zu.» Insbesondere in Regionen, wo die Fälle am stärksten ansteigen, sei eine Zunahme der Hospitalisationen «schon sichtbar». Für Personen über 60 sei die Wahrscheinlichkeit, nach einem positiven Test hospitalisiert zu werden,nun ähnlich gross wie im Frühjahr.

Ohne Contact Tracing droht der erneute Lockdown

Das Expertengremium warnt: «Wir dürfen nicht erst reagieren, wenn die Hospitalisierungs- oder Todesraten hoch sind.» Für die Taskforce hat es höchste Priorität, die Fallzahlen auf möglichst tiefem Niveau einzudämmen.

Dann drohten wieder flächendeckende Massnahmen «mit viel grösseren Kosten und Einschränkungen.» Als wichtigstes Mittel zur Eindämmung des Virus gilt in der Schweiz das Nachverfolgen der Kontakte, die Infizierte hatten. «Wenn das Contact-Tracing nicht mehr aufrechterhalten werden kann, steuern wir auf einen erneuten Lockdown hin», sagt auf Anfrage unserer Zeitung der Thurgauer Gesundheitsdirektor Urs Martin.

Epidemiolgin warnt: «Die Schweiz verliert die Kontrolle»

Doch das Contact Tracing ist in den vergangenen Wochen mehrfach an die Grenzen gestossen. Die Epidemiologin Nicola Low von der Uni Bern warnte am Sonntag auf Twitter gar, die Schweiz verliere «als Ganzes die Kontrolle über Covid 19». Denn die Teams, die die Kontakte nachverfolgen, gelangten in mehreren Kantonen an die Limite.

Im Kanton Zug war dies etwa am vorvergangenen Wochenende der Fall. Positiv getestete Personen wurden erst nach Tagen kontaktiert. Die rasche Zunahme der Fälle sei «eine enorme Herausforderung», sagte der Zuger Gesundheitsdirektor Martin Pfister gegenüber CH Media. Statt zwei bis drei Fälle pro Tag habe man plötzlich 25 gehabt. Auch in Zürich wurden Personen, die mit Infizierten in Kontakt standen, über Tage nicht kontaktiert, wie die «Sonntags Zeitung» schreibt. Betroffene erfuhren von ihren infizierten Bekannten, dass sie in Quarantäne sollten. Allerdings widersprach die Gesundheitsdirektion von Regierungsrätin Natalie Rickli gestern gegenüber Radio 1: «Das stimmt nicht. Das Contact-Tracing funktioniert im Kanton Zürich nach wie vor, auch bei den höheren Fallzahlen.»
 

Die Kantone stellen ständig mehr Contact Tracer an

In der stark betroffenen Waadt wurde das Contact Tracing Mitte September gar punktuell ausgesetzt. Nur noch, wer mit einer infizierten Person zusammenlebt, wurde in Quarantäne geschickt. Man hatte nicht mehr Kapazität, bei allen Infizierten die Kontakte zu eruieren. Schweizweit seien weniger als 30 Prozent der Positiv getesteten zuvor von Contact-Tracing-Teams alarmiert und in Quarantäne geschickt worden, schreibt die «Sonntags Zeitung».

Hat die Schweiz ein Problem? «Das Contact Tracing funktioniert an sich noch immer», sagt Michael Jordi, Generalsekretär der Gesundheitsdirektorenkonferenz. Es komme aber zu einzelnen Engpässen in den Kantonen. «Wenn es über mehrere Tage hohe Fallzahlen gibt, muss man zuerst neues Personal schulen und aufholen.» Es würden in den Kantonen ständig neue Contact Tracer rekrutiert. «Im Frühling galten 100 Infektionen pro Tag als Limite, um das Contact Tracing aufrechterhalten zu können. Heute funktioniert es bei 1000 Neuansteckungen noch immer», sagt Jordi. Trotzdem sei klar:

Ab welcher Schwelle das Contact Tracing nicht mehr funktioniere, könne man nicht voraussagen. Irgendwann stosse jedes Contact-Tracing an seine Grenzen, sagt der Aargauer Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati. «Man darf deshalb nicht mit dem Finger auf einzelne Kantone zeigen.» Es stelle sich zudem aus wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Sicht die Frage, wie viele Prozent der Bevölkerung man in die Quarantäne schicken könne. Im Aargau selbst funktioniert das Contact Tracing; Gallati ist optimistisch, auch einen starken Anstieg bewältigen zu können. Entscheidend ist dafür nicht nur, wie viele Ansteckungen es gibt, sondern auch wie gut die Teams dotiert sind.

Gesundheitsdirektor Martin aus dem Thurgau meldet sich deshalb regelmässig beim Team, um die Auslastung zu erfahren. Mehrfach hat er als Konsequenz das Personal aufgestockt. Auch Zivilschützer waren im Sommer ausgebildet worden, die, falls dereinst nötig, für kurze Zeit aufgeboten werden könnten. Die Kantone erhöhen derzeit, erneut, die Zahl der Contact-Tracer. Auch wenn dieses System nicht mehr präzise funktioniere, dürfe man es nicht aufgeben, sagte Epidemiologe Marcel Tanner: «In der Abwägung von Nutzen und Risiken schneidet das Contact-Tracing selbst dann noch gut ab, wenn es nur noch lückenhaft funktioniert.»