Dargebotene Hand kennt keine Sommerflaute: «Not macht keine Ferien»

Freiwillige Mitarbeiter finanzieren die Hälfte

Die Dargebotene Hand arbeitet mit einem Budget von rund 500 000 Franken, finanziert durch Landeskirchen, Kirchgemeinden, Kantone, politische Gemeinden, Stiftungen und Fundraising sowie Unternehmen. Einen grossen Teil zum Budget tragen auch Spenden von Privatpersonen sowie Mitgliederbeiträge bei. Würden die Leistungen der freiwilligen Mitarbeiter im Budget eingerechnet, stiege dieses auf rund 1 Million Franken. Die Hälfte tragen die freiwillig Mitarbeitenden durch ihre Telefondienste und Chat-Konversationen mit Hilfesuchenden zum Budget bei. Telefon 143 – Dargebotene Hand ist auf Spenden angewiesen. (lbr)

Nächster Sponsoring-Anlass der Dargebotenen Hand: Lauf der Herzen am 29. August in Aarau. www.laufderherzen.ch

Das Telefon klingelt. Der weisshaarige Mann hebt es ab: «Dargebotene Hand, guten Tag.» An diesem Sommertag hat der freiwillige Mitarbeiter Timon Dienst. Timon ist nicht der richtige Name des Mannes mit den weissen Haaren. Das Pseudonym hat er sich nach der Ausbildung bei der Dargebotenen Hand zugelegt, denn Telefon 143 ist anonym – sowohl für die Mitarbeitenden als auch für die Anrufenden. «Das nimmt die Hemmschwelle», erklärt Stellenleiterin Christina Hegi Kunz später. «Wüssten die Anrufenden, wer bei uns arbeitet, würden sie vielleicht nicht anrufen. Aus Angst, dass eine bestimmte Person das Telefon abnimmt.» Timon ergänzt: «Die Anonymität schützt auch mich. Nicht dass plötzlich jemand bei mir zu Hause aufkreuzt.» Ausserdem könne er so die oft heftigen Geschichten, die die Anrufenden erzählen, besser verarbeiten. «Bei der Schichtübergabe besprechen wir untereinander Themen, die uns nach einem intensiven Telefongespräch beschäftigen.»

Zudem biete die Dargebotene Hand ihren freiwilligen Mitarbeitern auch Supervision an, sagt Christina Hegi. Sie ist die Leiterin der Geschäftsstelle der Dargebotenen Hand Aargau/Solothurn-Ost und damit eine der drei festangestellten Mitarbeiterinnen. Im Gegensatz zu den freiwilligen Mitarbeitern stehen sie, Jeanette Wernli und Claudia Loosli, in der Öffentlichkeit. Sie übernehmen keine Telefonschichten.

Fundierte Ausbildung
Trotz Sommerferien und extremer Hitze ist die Dienstleistung der Dargebotenen Hand gefragt. «Not macht eben keine Ferien», sagt Timon, der im Bezirk Zofingen wohnt. Er selber ist seit einigen Jahren pensioniert. «Nun habe ich Zeit, mich freiwillig zu engagieren», sagt er. Da er schon immer die Dargebotene Hand mit Spenden unterstützt hat, lag der Entscheid zur freiwilligen Mitarbeit bei dieser Institution nahe. Noch während seiner letzten Arbeitsjahre hat Timon die neunmonatige Ausbildung zum freiwilligen Mitarbeiter der Dargebotenen Hand absolviert. Sein Arbeitgeber – Timon war damals in leitender Position tätig – stellte ihn während der Schulungstage frei. Etwa vier Mal im Monat sitzt der Mann mit den weissen Haaren seither am Telefon in einer Wohnung in der Region Aarau und wartet, dass sich Hilfesuchende bei Telefon 143 melden. 20 bis 30 Minuten dauere ein Gespräch durchschnittlich, sagt er. «Die Menschen verändern sich während des Gesprächs. Oft sind sie erst leise, zurückhaltend und erzählen erst nach einer Weile von ihren wirklichen Problemen.»

Darüber reden hilft
Psychische Erkrankungen und Alltagsbewältigung sind die meistgenannten Gründe, warum jemand das Telefon 143 anruft. Aber auch Paarbeziehungen und Sexualität, Familie, Suchtverhalten oder Gewalt sind oft genannte Themen. Meist, so betont Timon, werde nicht ein Thema isoliert angesprochen, sondern eine Kombination von mehreren. «Und jetzt, während der Sommerferien, melden sich auch oft Menschen, die einsam sind, weil all ihre Kollegen in den Ferien sind.» Nicht alle könnten es sich eben leisten, während der Sommerferien wegzufahren, ergänzt Christina Hegi. Suizidgedanken sind nur in knapp fünf Prozent der Telefongespräche ein Thema. «Und viele kommen während des Gesprächs wieder davon ab», sagt Timon.

Christina Hegi und Timon sind sich einig: Dass jemand über seine Suizidgedanken spricht, ist die beste Suizid-Prävention. Denn oft hilft es schon, mit jemandem die Probleme zu besprechen und Lösungsstrategien auszuarbeiten. Nicht selten verweisen die Mitarbeiter der Dargebotenen Hand auf Fachstellen. «In einem Gespräch mit uns kann man über seine Gedanken reden, ohne dass gleich Massnahmen eingeleitet werden», erklärt Timon.

Wichtig auch im Sommer
Dass ausschliesslich der Winter mit dem vielen Nebel und der fehlenden Sonne Depressionen begünstige, verneinen sowohl Timon als auch Christina Hegi. Auch im Sommer seien Depressionen ein Thema. Forscher in Amerika haben kürzlich nachweisen können, dass die Hitze die Suizidrate sogar erhöht. «In der Zeit der Selbstinszenierung auf sozialen Plattformen will man sich glücklich zeigen. Wenn wir diesem Anspruch nicht genügen, kann uns dies zusätzlich bedrücken», sagt Christina Hegi.

Darum ist es umso wichtiger, dass auch während der Sommermonate Tag und Nacht jemand am Telefon 143 zur Verfügung steht, der unvoreingenommen zuhört. Aktuell verfügt die Geschäftsstelle Aargau/Solothurn-Ost über 50 freiwillige Mitarbeitende, die sich die täglich vier Schichten teilen. Neben der Telefonberatung bietet die Dargebotene Hand auch Online-Beratung an. Insbesondere die Chat-Beratung gewinne aufgrund der noch grösseren Anonymität weiter an Bedeutung, sagt Christina Hegi. «Die Distanz schafft eben auch Nähe.» Dass er den Anrufenden bzw. Schreibenden nie von Angesicht zu Angesicht sehen kann, empfindet Timon daher nicht als Nachteil. Im Gegenteil: «So kann ich mich mehr auf den Gesprächsinhalt konzentrieren, ohne dass ich von Äusserlichkeiten abgelenkt werde.»