
Das britische Experiment: Ab heute gibt es auf der Insel keine Coronamassnahmen mehr
Boris Johnson steht wiedermal da, wo er am liebsten steht: Mitten im Rampenlicht. Ganz Europa schaut gebannt auf den Montag. Dann fallen im Vereinigten Königreich alle staatlichen Beschränkungen im Kampf gegen die Coronapandemie – alle. Und zwar trotz der hochinfektiösen Delta-Variante. Maskenpflicht in Geschäften, Bussen und Zügen? Vorbei. Abstandsregeln in Pubs, Theatern und Kinos? Ist nicht mehr. Staatliche Aufforderung zum Homeoffice? Ach was, zurück in die Bude! «Das Schlimmste dieser Pandemie liegt hinter uns», sagte der 57-jährige Premier diese Woche. Die «Mauer der Immunität» werde täglich höher.
Doch je näher das zum «Tag der Freiheit» gekürte Datum rückt, umso vorsichtiger werden die Töne aus der Downing Street. Noch zu Monatsbeginn besangen Johnson und sein Gesundheitsminister Sajid Javid stets die grosse Freiheit und nannten die jüngsten Lockerungsschritte «unumkehrbar». Die vergangenen Tage allerdings herrschte ein nüchternerer Ton. Der konservative Regierungschef betonte die «persönliche Verantwortung», die notwendig sei, um das «Ende des Regierungsdiktats» herbeiführen zu können. Er mahnte aber auch wortreich zur Besonnenheit: «Vorsicht ist absolut unerlässlich, wir sind alle verantwortlich.» Die Pandemie sei noch nicht vorbei, dem Land stünden «schwierige Tage und Wochen» bevor.
Diese Woche schnellte die Zahl der täglich gemeldeten positiven Covid-Tests um fast einen Drittel nach oben. 47 Prozent mehr Patienten mussten wegen einer Covid-Erkrankung ins Spital gebracht werden, die Zahl der Toten lag um 48 Prozent höher als in der Vorwoche. Im Schnitt starben 38 Menschen pro Tag. Vor allem unter Kindern und jungen Leuten greift das Virus um sich: Das Durchschnittsalter der Erkrankten lag zuletzt bei 25 Jahren.
Johnson nun doch in Selbstisolation
Der britische Premierminister Boris Johnson will nach Kontakt mit seinem an Covid-19 erkrankten Gesundheitsminister Sajid Javid doch in Selbstisolation gehen. Das teilte der Regierungssitz Downing Street am Sonntag mit – nur Stunden nachdem ein Sprecher das Gegenteil verkündet hatte.
Zuerst hatte es geheissen, Johnson und sein Finanzminister Rishi Sunak würden an einem Pilotprojekt teilnehmen und daher statt der Selbstisolation tägliche Tests absolvieren. Die Entscheidung hatte zu einem Aufschrei der Empörung geführt, weil derzeit Hunderttausende Briten Zuhause sitzen, nachdem sie vom Nationalen Gesundheitsdienst NHS wegen Kontakts mit einer infizierten Person zu einer zehntägigen Quarantäne aufgefordert wurden.
Die Schotten wehren sich gegen Johnsons Vorhaben
Doch die rapide ansteigenden Zahlen vernebeln den Blick auf die vielleicht wichtigste Kenngrösse in diesem anbrechenden britischen Experiment: die Auslastung der Intensivstationen. Und die liegt bis anhin absolut im grünen Bereich. Von der traurigen Realität jener Januartage, als bis zu 1500 Menschen täglich ihrer Covid-Erkrankung erlagen, ist das Vereinigte Königreich weit entfernt.
Das erfolgreiche Impfprogramm des nationalen Gesundheitssystems zeigt Wirkung. 87,5 Prozent der Erwachsenen haben eine Dosis Astrazeneca, Moderna oder Pfizer/Biontech erhalten. 67 Prozent verfügen sogar über die vollständige Immunisierung. Verständlich, eigentlich, dass Johnson noch zu Monatsbeginn auf Kritik an seinem europaweit einzigartigen Öffnungskurs mit der Frage antwortete: «Wann denn, wenn nicht jetzt?»
Viele britische Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft scheinen allerdings gar nicht angetan vom experimentellen Kurs des mächtigen Blondschopfs. Viele Wissenschaftsberater der Regierung halten die jüngsten Zahlen für alarmierend genug, um laut vor der unbeirrten Öffnungspolitik zu warnen. Insbesondere die Befreiung der Menschen von der Maskenpflicht sorgt für Kopfschütteln. «Es wäre so viel leichter, wenn die Vorschrift in Kraft bliebe», findet etwa Peter Openshaw, Immunologe am Londoner Imperial College.
Das bleibt sie auch, jedenfalls vielerorts. Denn kaum hatte Johnson angekündigt, alle Beschränkungen aufzuheben, meldeten sich Verantwortliche aus allen Landesteilen zu Wort. In Wales und Schottland werde die Pflicht zum Maskentragen in Bussen und Bahnen weiter bestehen bleiben, teilten die Regierungschefs Mark Drakeford und Nicola Sturgeon mit. Gleiches gilt in den U-Bahn-Wagen der Neun-Millionen-Metropole London. «Ich werde unsere Bürger keinem unnötigen Risiko aussetzen», teilte Londons Bürgermeister Sadiq Khan mit.
Londons Banker machen nicht mit
Den Politikern folgten die Geschäftsleute. Supermarktketten wie Tesco, Sainsbury’s und Asda fordern die Kundschaft auf, weiterhin sich selbst und andere mit einer Maske zu schützen. Auch soll die Zahl der Einkaufenden in den Filialen begrenzt bleiben. Und auch die Billigfluganbieter Easyjet und Ryanair pochen auf die Maskenpflicht.
Im Finanzzentrum City bleiben die Büroflure von Banken und Versicherungen vorläufig verwaist. «Mindestens bis September», so lautet die Vorgabe vieler Manager, sollen Banker und Broker nach Möglichkeit im Homeoffice verharren. Auch danach kehren wohl nur wenige zur Normalität zurück. So rechnet man bei der Grossbank Natwest (früher Royal Bank of Scotland) damit, dass mehr als die Hälfte der Belegschaft in Zukunft von zu Hause aus arbeiten wird.
Die sonst so streitlustige Regierung, allen voran ihr experimentierfreudiger Vormann, hat die Vielzahl von Vorsichtsbekundungen bislang mit keinem Wort kommentiert. Da kommt manch einem der Verdacht, dass Johnson das Vorgehen von Regionalregierungen und Firmen ganz gut in den Kram passt, während er selbst sich als Freiheitskämpfer präsentieren kann.
Manche Beobachter sehen den Konservativen unter starkem Druck der eigenen Fraktion. Weitere gesetzlich vorgeschriebene Einschränkungen werden von den Unterhausabgeordneten, von denen viele ländliche, von der Pandemie kaum betroffene Wahlkreise vertreten, nicht länger goutiert. Und würde Johnson sich zur Verabschiedung von Covid-Massnahmen auf die durchaus willige Labour-Opposition stützen, «wäre das sein Ende», glaubt ein erfahrener Tory-Kenner.
Für Johnsons «Wann denn, wenn nicht jetzt?»-Attitüde gibt es weitere Gründe: Wenn Ende nächster Woche fast im ganzen Land die Sommerferien beginnen, fallen die Schulen als potenzielle Infektionsherde aus. Weil zudem grosse Unternehmen ebenso wie der Beamtenapparat im Regierungsviertel bis auf weiteres am Homeoffice festhalten und Sommertouristen weitgehend ausbleiben, sind die öffentlichen Verkehrsmittel selten überfüllt. Zudem begünstigt der Sommer die Verlagerung vieler Treffen ins Freie.
Zwei Jahre warten auf ein künstliches Hüftgelenk
Und schliesslich findet Gesundheitsminister Javid, dass das Ende der Beschränkungen auch aus rein gesundheitlicher Perspektive genau richtig sei. Er weist auf den ungeheuren Stau von Facharztterminen hin, die in den vergangenen 18 Monaten der Pandemie zum Opfer fielen. Auch hätten die dauerhaften Einschränkungen «schlimme Auswirkungen» auf die mentale Verfassung vieler Briten gehabt. Der endgültige Abschied vom Corona-Lockdown werde die Bevölkerung «nicht nur freier, sondern auch gesünder» machen.
Das Argument wird von vielen Ärzten geteilt, erfährt in den britischen Medien aber wenig Widerhall. In der Öffentlichkeit agieren prominente Ärzte und Wissenschafter eher als Kassandras, oft gespeist aus ihren traumatischen Erfahrungen in Krankenhäusern während der ersten und zweiten Welle.
Diese Fronterfahrung hat auch der gebürtige Wiener Helmut Roniger gemacht. Im Winter unterbrach der Internist und Komplementärmediziner seine Arbeit mit schwerkranken chronischen Schmerzpatienten, um auf der Intensivstation des Zentrallondoner Krankenhauses UCLH auszuhelfen. Jetzt aber, glaubt der 59-Jährige, komme die Öffnung zur rechten Zeit.
Nüchtern zählt Roniger auf, was neue Statistiken nahelegen, teilweise auch schon belegen: Die wiederkehrenden Lockdowns zeitigen verheerende gesundheitliche und gesellschaftliche Folgen. Der Gesundheitsbehörde Public Health England (PHE) zu Folge lag die Zahl der alkoholbedingten Todesfälle im vergangenen Jahr um 20 Prozent höher als 2019. Die Zahl kleinerer, nicht unbedingt lebensnotwendiger Operationen ging um 4,6 Millionen zurück, der Trend hält auch in diesem Jahr an. Die Wartezeit für Routineeingriffe wie Mandel- oder Gelenkoperationen ist in die Höhe geschnellt, auf eine künstliche Hüfte warten stark schmerzgeplagte Patienten bis zu zwei Jahren. Onkologen erwarten eine Welle von Krebserkrankungen im fortgeschrittenen Stadium, weil viele Patienten dringend notwendige Vorsorgeuntersuchungen aus Angst vor Covid-19 absagten.
Wie das Experiment ausgeht? Ganz klar ist das nicht. Europa wartet gebannt ab – genau wie Boris Johnson.