«Das ist einfach nur noch peinlich!» – Schweizer UNO-Experte kritisiert Busbetriebe und SBB scharf

Rechtsprofessor Markus Schefer wurde 2018 in den UNO-Ausschuss für Behindertenrechte gewählt. (Archivbild, 2009/Keystone) © CH Media
Rechtsprofessor Markus Schefer wurde 2018 in den UNO-Ausschuss für Behindertenrechte gewählt. (Archivbild, 2009/Keystone) © CH Media

Zur Person

Markus Schefer wurde im Juni 2018 in den UNO-Behindertenrechtsausschuss gewählt. Er ist der erste Schweizer im Gremium, das aus 18 Experten besteht. Der 54-Jährige ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel und Experte für Grund- und Menschenrechte. Für seine Arbeit bei der UNO erhält er eine Spesenentschädigung, keinen Lohn. Der Behindertenrechtsausschuss ist ein Organ der UNO-Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Das Gremium überprüft die Umsetzung der Konvention und entwickelt sie weiter.

Es ist Abend, als Markus Schefer (54) in einem Genfer Hotel nahe dem UNO-Hauptsitz, dem «Palais des Nations», zum Interview erscheint. Seit Anfang September und bis Ende Monat tagt der UNO-Ausschuss für Behindertenrechte, in den Rechtsprofessor der Universität Basel 2018 als erster Schweizer gewählt wurde.

Im Gespräch zieht er exklusiv Bilanz. Er spricht sich für einen gemeinsamen Schulunterricht aus von Kindern mit und ohne Behinderung – und kritisiert den mangelnden Diskriminierungsschutz in der Schweiz.

Sie wurden vor einem Jahr als erster Schweizer in den UNO-Ausschuss für Behindertenrechte gewählt. Welches sind zurzeit die grossen Themen, die in Ihrem Gremium besprochen werden?

Markus Schefer: Ein grosser Teil unserer Arbeit besteht darin, Länderberichte zu prüfen, um zu sehen, inwiefern die Länder die UNO-Behindertenrechtskonvention erfüllen. In einem reichen Land werden andere Aspekte angeschaut als in einem armen Land, oder in einem mit einer humanitären Krise, wie aktuell in Myanmar, wo die Rohingas verfolgt werden.

Welches Land ist bei den Behindertenrechten am weitesten?

Das lässt sich nicht sagen, da die Themen zu unterschiedlich sind. Viele südamerikanische Länder sind zum Beispiel recht weit bei der Selbstbestimmung, dass Menschen mit psychosozialen Behinderungen nicht einfach in ein Institut gesteckt werden und dort gegen ihren Willen Medikamente einnehmen müssen. Da hat die Schweiz Aufholbedarf. Bei uns besteht nach wie vor die Möglichkeit einer umfassenden Beistandschaft, die dem Betroffenen die Selbstbestimmung wegnimmt.

Man stellt sich die UNO sehr bürokratisch vor. Wie oft werden die Sitzungen emotional?

Wenn man einen Bericht erhält, der die Migrationsproblematik in Mexiko im Detail beschreibt, mit der barbarischen Bandengewalt, dann geht das unter die Haut. Diese Menschen sind ihrem Schicksal komplett ausgeliefert. Solche Sachen sind nicht bürokratisch, sondern schwer zu verdauen.

Wo braucht es besonders viel Überzeugungsarbeit?

Bei der Schweiz! Und zwar nicht nur bei den staatlichen Behörden, sondern auch bei den Behindertenverbänden. Sie sind Empfänger staatlicher Leistungen und wollen es sich nicht mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen verscherzen. Dabei müssten sie stärker die Grundrechte ihrer Mitglieder durchsetzen. Heute sind sie oftmals Bittsteller und suchen den Konsens. Dabei geht es darum, dass Menschen mit Behinderungen die gleichen Rechte zustehen wie allen anderen auch. Dafür lohnt es sich, falls nötig auch vor Gericht zu kämpfen.

Wieso ist gerade in der Schweiz so viel Überzeugungsarbeit notwendig?

Vielleicht weil wir eine relativ gute IV haben. Da denkt die Bevölkerung rasch einmal: Was wollen sie denn noch mehr? Vieles geschieht aus einer Haltung: Ich helfe dir. Und nicht aus der Haltung: Du hast das gleiche Recht wie ich. Kürzlich las es einen Artikel über einen Mann im Rollstuhl mit Sauerstoffmaske, dem ein Tisch in einem Restaurant verwehrt wurde, mit der Begründung, man könne ihn den anderen Gästen nicht zumuten. Das zeigt, wie weit der Weg noch ist. Es gibt 470‘000 Menschen mit einer schweren Behinderung in der Schweiz, fast so viel wie die Bevölkerung der Stadt Zürich. Aber man sieht sie kaum.

Wie meinen Sie das?

Es ist eine sehr grosse Zahl von betroffenen Menschen, aber im Alltag sieht man sie nicht. Weil viele in Institutionen leben. Und für viele ist der Bewegungsradius eingeschränkt, beispielsweise weil Strassenübergänge zu hohe Trottoirs haben, die nicht rollstuhltauglich sind. Wenn ein Platz barrierefrei umgebaut wird, sieht man plötzlich mehr Rollstuhlfahrer. Die gab es vorher auch schon, aber ihnen waren die Wege versperrt.

Laut einer Comparis-Studie von 2017 sind nur 3,4 Prozent der Deutschschweizer Stadtwohnungen rollstuhlgängig. In Basel sind es gar nur 1,6 Prozent. Was läuft da falsch?

Die meisten Wohnungen sind in Privatbesitz. Im Gesetz des Bundes gibt es zwar Vorschriften: Wenn ein Block neun oder mehr Wohnungen hat, muss der Zugang zur Wohnung barrierefrei sein. Die Wohnung selbst hingegen nicht. Die meisten Wohnhäuser in der Schweiz haben zudem nur sechs oder acht Wohnungen und fallen nicht unter diese Regelung. Die bestehenden Wohnhäuser müssen auch nicht per sofort umgebaut werden, sondern erst bei Umbauten, die eine Baubewilligung erfordern.

Die rollstuhlgängigen Wohnungen sind in der Regel moderner und folglich teurer…

Stimmt. Neue Schweizer Wohnungen haben in der Regel einen enorm hohen Ausbaustandard, da fehlt es an nichts. Das führt dazu, dass sie teurer sind. Und Menschen mit Behinderungen sind statistisch weniger kaufkräftig. Und was heisst schon barrierefrei? Wenn der Wohnblock eine Fernsprechanlage hat, Sie aber nichts hören, nützt Ihnen das nichts. Genauso wie ein Bildschirm, wenn Sie blind sind. Es braucht halt mehr als lediglich Rollstuhlgängigkeit.

 

Haben Sie kein Verständnis für die privaten Hausbesitzer, die argumentieren, wenn es so viele Einrichtungen braucht, kommt es irgendwann zu teuer?

Da verweise ich gerne wieder auf den hohen Ausbaustandard in den Wohnungen. Dort ist ihnen oftmals nichts zu teuer. Man könnte den allgemeinen Ausbaustandard auch etwas senken, dafür aber allen Menschen den Zugang zur Wohnung ermöglichen.

In der öffentlichen Debatte geht es oft um Menschen mit physischen Behinderungen. Gehen psychosoziale Behinderungen vergessen?

Leider ja. Böse Zungen bezeichnen unser Behindertengleichstellungsgesetz von 2003 als Rollstuhlfahrergesetz, und das ist nicht ganz falsch. Viele Leute denken beim Wort Behinderung als erstes an einen Rollstuhlfahrer. Und da geraten psychische oder intellektuelle Behinderungen wie Trisomie 21 in den Hintergrund. Auch deshalb kommt es in den kantonalen Psychiatrien nach wie vor zu medikamentösen Zwangsbehandlungen.

Genügt der Diskriminierungsschutz heute in der Schweiz?

Nein, insbesondere etwa bei der Arbeit. Wenn Sie wegen einer Behinderung von einem privaten Arbeitgeber entlassen werden, haben Sie absolut keinen Schutz. Null. Die Firma ist auch nicht verpflichtet, Anpassungen am Arbeitsort für Sie zu machen, damit Sie die Arbeit ausführen können, sogar wenn die IV die Kosten dafür übernehmen würde. Die Arbeitgeber wehren sich gegen jegliche Verbesserungen in diesem Bereich.

Nächstes Jahr prüft Ihre Kommission die Fortschritte der Schweiz. Wird dieser Mangel zur Sprache kommen?

Ich werde bei dieser Beurteilung als Schweizer in den Ausstand treten. Aber man muss kein Prophet sein, um Kritik der UNO an der Schweiz kommen zu sehen. Die Schweiz hat einen hohen Lebensstandard, von so einem Land darf man mehr als erwarten als beispielsweise von Vanuatu, das über 60 Inseln verteilt ist und ein zigfach kleineres BIP als die Schweiz aufweist. Der mangelnde Schutz in privaten Arbeitsverhältnissen wird von der UNO kritisiert werden.

Kürzlich entschieden Gerichte gegen einen Genfer Rollstuhlfahrer. Er fühlte sich diskriminiert, weil ihm der Zugang zu einem Kino verwehrt wurde.

Das ist menschlich und rechtlich ein betrüblicher Fall. Wenn man die Argumentation des Bundesgerichts beim Wort nimmt, dann wäre auch die Abweisung des erwähnten Rollstuhlfahrers mit Sauerstoffmaske im Restaurant zulässig. Noch ärgerlicher ist der Entscheid vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der den ersten Entscheid stützte und der – unabhängig vom Ergebnis – miserabel begründet ist.

Die grösste Zug-Bestellung in der Geschichte der SBB droht zum Fiasko zu werden – auch weil Behindertenverbände vor Gericht die Hindernisfreiheit der Züge in Abrede stellen. Wie beurteilen Sie diesen Zwist?

Die Beschwerde der Behindertenverbände ist nicht der Grund für die Lieferverspätungen. Lieferant Bombardier brachte es einfach nicht auf die Reihe, wie man inzwischen weiss. Es ist sehr bedenklich, dass die SBB über 60 Züge bestellt haben, welche die nächsten 30 oder 40 Jahre im Einsatz sein werden, die aber für durchschnittliche Rollstuhlfahrer mit Handrollstuhl nicht selbstständig benutzbar sind. Für sie besteht wegen der steilen Rampe die Gefahr, beim Aussteigen umzufallen und sich den Kopf aufzuschlagen.

Die SBB argumentieren, Sie halten sich an gängige Normen.

Das ist eine rechtliche Frage, wobei ich auch da Fragezeichen setze. Und es gibt die Tatsachen. Und die zeigen, dass die Züge für Rollstuhlfahrer ein grosses Problem sind.

Öffentliche Bauten und Anlagen des öffentlichen Verkehrs sowie Trams und Busse müssen bis Ende 2023 behindertentauglich umgerüstet werden. Dies schreibt das Behindertengleichstellungsgesetz vor. Die SBB sagen allerdings schon länger, dass sie dieses Ziel nicht erreichen werden. Droht den Bundesbahnen dann eine Klagewelle?

So zurückhaltend wie die Gerichte solche Themen bisher angegangen sind, würde ich jedem Menschen mit Behinderung davon abraten zu klagen. Deshalb nehmen es ja die Verantwortlichen auch auf die leichte Schulter. Die SBB und die Kantone wissen von den Vorgaben seit 2004. Man gab ihnen zwanzig Jahre, damit sie auf jeden Fall genügend Zeit haben. Aber vor zehn Jahren wurden in den Kantonen noch munter neue Bus- und Tramstationen gebaut mit Haltekanten, von denen man wissen musste, dass sie nicht behindertentauglich sein würden. Solche Vorkommnisse tragen bei der UNO natürlich nicht zur Glaubwürdigkeit der Schweiz bei.

Gemäss der Schweizer Fachstelle für Hindernisfreie Architektur waren 2018 von den rund 50’000 Bushaltestellen erst ungefähr 1’000 umgebaut und von Personen mit Behinderung autonom benutzbar…

Bei den Bushaltestellen ist es einfach nur noch peinlich. Es ist immer jene Partei für den Umbau zuständig, welcher die Strasse gehört: die Gemeinde, der Kanton oder Private. Zudem kaufen manche öV-Betriebe noch heute Busse mit Türen, die nach aussen aufschwingen, was für mich unverständlich ist. Denn bei einer Haltekante mit den erforderlichen 23 Zentimeter Höhe geht eine solche Türe beim Öffnen kaputt.

In den USA gilt die Sensibilität für Menschen mit Behinderungen als deutlich grösser. Weshalb?

Sie haben ihr Behindertengleichstellungsgesetz, den „Americans with Disabilities Act“, 1990 verabschiedet, also viel früher als die Schweiz. Übrigens unter einem republikanischen Präsidenten, George Bush Senior.

Bräuchte es mehr Kampagnen in der Schweiz für mehr Sensibilität?

Mein Lehrstuhl an der Universität Basel begleitet derzeit mehrere Kantone bei den Gesetzgebungsverfahren. Da stelle ich fest, dass ein solches Verfahren die beste Sensibilisierungsmassnahme für die Behörden ist. Erst dann setzen sich die Behörden intensiv mit den Themen auseinander und versuchen Kollegen aus anderen Departementen zu überzeugen.

 

Und was ist mit öffentlichen Kampagnen?

Da bin ich etwas skeptisch. Gerade im Bereich der Menschenrechte besteht die Gefahr, dass man als überheblicher Gutmensch rüberkommt, der von der moralischen Kanzel predigt. Wichtiger ist, dass man Menschen mit Behinderungen direkt erlebt, und auch ihre Probleme im Alltag. Deshalb denke ich, dass die inklusive Bildung auf längere Frist am wirksamsten ist, also die gemeinsame Ausbildung von Kindern mit und ohne körperliche, intellektuelle und psychosoziale Behinderungen. So wachsen Kinder früh mit Menschen mit Behinderungen auf und lernen, mit ihnen jeden Tag so zu leben wie mit anderen Menschen auch.

Schulen dürften argumentieren, die zusätzliche Betreuung sei zu teuer, und Eltern könnten Angst haben, dass Kind in einer gemischten Klasse weniger lernt.

Das sind die gleichen Ängste wie von Leuten, die befürchten, in Klassen mit Kindern aus ausländischen Familien würden ihre Kinder weniger lernen. Soll man dort die Klassen auch trennen? Dann finden wir uns plötzlich in einer äusserst unangenehmen Gesellschaft wieder.

Letzten Herbst sagten 65 Prozent der Schweizer ja zum Sozialdetektiv-Gesetz und somit zur Überwachung von Versicherten. Ist das ein Problem aus UNO-Sicht?

Ich weiss nicht, ob dieses Thema bei der Länderprüfung von der UNO angesprochen wird, da ich wie gesagt bei der Schweiz in den Ausstand trete. Leider wurde bei dieser Abstimmung die Diskriminierungsfrage fast gänzlich ausgeblendet. Aber mit der Annahme dieser Abstimmung werden Menschen mit einer Behinderung unter Generalverdacht gesetzt. Es ist betrüblich, dass wir das tun.

Half das Schimpfwort «Scheininvalide» den Befürwortern?

Klar, denn die SVP bewirtschaftet solche Begriffe, wie auch den „Sozialschmarotzer“, erfolgreich seit bald 20 Jahren. Wenn man solche Terminologien pflegt, haben sie irgendwann gesellschaftliche Auswirkungen. Die Sprache beeinflusst unser Handeln.

Viele Grosskonzerne haben in den vergangenen Jahren Stellen geschaffen im Bereich «Diversity & Inclusion», um unter anderem auch Menschen mit Behinderungen besser zu integrieren. Inwiefern sind solche Diversity-Manager nötig?

Die Gefahr von solchen Stellen ist, dass alle extrem auf diese Themen sensibilisiert sind, aber dass am Schluss wenig gemacht wird. Deshalb bin ich auch nicht für ein allgemeines Gleichstellungsgesetz, anders als die meisten Schweizer Menschenrechts-NGOs. Die Probleme bei der Gleichstellung von Frauen sind andere als jene bei der Gleichstellung von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, sexueller Orientierung oder Behinderung. Wenn man über alles den Diversity-Mantel legt, besteht die Gefahr, dass am Schluss wenig Konkretes verändert wird.

Wie glaubwürdig ist die UNO in ihrer Kritik selber? Schliesslich hat sie erst dieses Jahr selber eine «Inclusion Disability Strategy» verabschiedet.

Die UNO ist ein Teil der Gesellschaft und kämpft selber mit den gleichen Problemen. In unserem Ausschuss sind von 18 Personen nur zwei ohne Behinderung, ich inklusive. Als ich mich zur Wahl stellte, kam die Frage, weshalb man eine Person ohne Behinderung in diesen Ausschuss wählen soll. Dabei geht es doch um die ganze Gesellschaft. Alle müssen involviert werden. Und wir brauchen auch in der Schweiz mehr Leute, auch solche ohne Behinderung, die sich für jene 20 Prozent der Bevölkerung einsetzen, die mit einer Behinderung leben.

Bräuchte es steuerliche Anreize, Quotenregelungen oder gar Gesetze für Firmen, damit sie mehr Menschen mit Behinderungen anstellen?

(überlegt lange) Eine Quote hätte politisch null Chancen. Es gibt nicht mal beim Bund oder den Kantonen eine…

…aber würden Sie eine Quote begrüssen?

Ja, ich glaube es wäre eines der wenigen, wirksamen Mittel im Bereich der Arbeit. Quoten haben aber einen schlechten Ruf. Ein Unternehmen ab einer bestimmten Grösse hat aber durchaus die Möglichkeit, Menschen mit Behinderung anzustellen. Im Behindertengleichstellungsgesetz steht zudem, dass der Bund eine Vorbildfunktion einnehmen soll.

Aber?

Er hat kaum etwas unternommen. Es gibt enorm wenig Bundesangestellte mit einer Behinderung. Ich fände es richtig, dass der Bund voran gehen und eine Quote einführen würde, und die Kantone folgen würden. Der Bundesrat hat sich in der Vergangenheit dagegen ausgesprochen, was meiner Meinung nach ein Fehler ist. Wenn wir vorwärts kommen wollen, müssten zumindest die staatlichen Arbeitgeber ein Vorbild sein. Sonst folgen die Privaten nie.

 

Man könnte den Unternehmen steuerliche Anreize geben…

Eine Pro-Kopf-Prämie? Wieso nicht, das könnte man probieren, aber es riecht nicht gut.

Wie stark hilft die Digitalisierung Menschen mit Behinderung heute im Alltag?

Sie hilft in vielen Bereichen. Sie führt aber auch zu neuen Problemen. Die grössten Veränderungen wird es in den nächsten Jahren für Menschen mit Hörbehinderung geben. Ein Beispiel: Heute bestellen Menschen, die nicht hören können, einen Gebärdendolmetscher, wenn sie zum Arzt gehen. Neuerdings gibt es Apps, die bisher nur für Englisch und Hindi funktionieren, die das Gesprochene in Schrift umwandeln. So wird irgendwann die Frage gestellt: Haben Gehörlose noch Anrecht auf Gebärdendolmetscher, wenn es auch per App geht und sie gut lesen können?.

Eine nachvollziehbare Frage.

Es ist heikel. Viele Menschen mit Hörbehinderung haben Mühe mit der geschriebenen Sprache. Zudem ist die Gebärdensprache Teil der Kultur von diesen Menschen. Sie drohen ihre Sprache zu verlieren. Es ist keine Frage der Effizienz, sondern eine Frage der Kultur.

Inwiefern können solche Technologien auch ein gesellschaftliches Problem darstellen? Denn mit neuen Prothesen oder Rollstühlen, die Treppen steigen können, wird suggeriert, dass sich der Mensch mit der Behinderung anpassen muss – nicht seine Umgebung.

Die Möglichkeit, sich physisch fortzubewegen, ist auch eine Frage des Alters. Mit der Alterung der Gesellschaft steigt auch die Mobilitätsbehinderung. Bevor wir im Alter alle gezwungen werden, solche Rollstühle zu kaufen, wird man hoffentlich merken, dass Treppen nicht überall die beste Lösung sind. In der Schweiz gibt es viele nutzlose Treppen. Dort zwei Stufen, dort vier, aus rein ästhetischen Gründen oder Gedankenlosigkeit, aber unnütz.

Sie sind für vier Jahre gewählt. Wie wichtig ist der Standort Genf für die UNO, wenn Sie mit anderen Vertretern hier sprechen? Schliesslich wurden zuletzt viele UNO-Stellen nach Kopenhagen oder Budapest ausgelagert.

Genf ist nach wie vor sehr wichtig für die UNO, nicht zuletzt dank dem Menschenrechtsbereich. Die Schweiz muss dafür sorgen, dass sie einen guten Namen behält als ehrlicher Vermittler und Gesprächspartner, und dass sie sich weiterhin für Menschenrechte einsetzt, ohne überall den eigenen Vorteil rauszuholen. Sonst verspielt sie sich ihr Ansehen.