«Das Lied passt gut zu meinem Lebensweg»

Im rot-weiss-schwarzen Renndress sitzt Roger Bolliger auf einem Stuhl. Er steht auf, zieht die Beinprothese aus, greift zu Krücken und läuft aus dem Raum. Dann umfassen seine Hände den Lenker seines Rennrads. Roger Bolliger lächelt, ehe er mit viel Tempo einen Hang hinaufpedalt. Dies sind Szenen, die sich im Alltag des Bottenwilers ständig abspielen. Nun sind sie in einem Videoclip verewigt. Der Rheintaler Musiker Shem Thomas, der 2014 die Show «The Voice of Switzerland» gewann, hat den Paracycler zu einem von fünf Protagonisten in seinem Video «Do it» gemacht.

Wenn Shem Thomas mit markanter Stimme fast schreit: «Du warst immer ein Champion. Sei im Kopf fokussiert, lass dich von deinem Herz leiten. Habe Feuer in deiner Seele und lass dich von nichts aufhalten», lässt das keinen unberührt. «Die Botschaft des Lieds passt sehr gut zu meinem Lebenslauf», sagt Roger Bolliger. Der 46-Jährige verlor 2002 bei einem Arbeitsunfall als Käser sein rechtes Bein. Schon zuvor sportlich aktiv, begann er noch in der Rehazeit auf dem Veloergometer zu trainieren. 2004 bestritt er sein erstes Radrennen – einbeinig. Er wurde vom Nationaltrainer entdeckt, fuhr bald international und nahm 2016 an den Paralympics in Rio de Janeiro teil. Im Januar 2019 wurde er als erster paralympischer Athlet Sportsoldat. Er kann jährlich 100 WK-Tage für Trainingslager und Wettkämpfe einsetzen und hält im Gegenzug Referate. Sein Arbeitspensum als Buchhalter reduzierte Bolliger auf 20 Prozent. «Do it», wage es jetzt, sei mutig, Aufbruchstimmung – Bolliger kennt die Gefühle, die Shem Thomas besingt.

Durch Wiliberg gedüst und daheim gedreht

Der Kontakt zwischen dem Radsportler und dem Singer-Songwriter kam über den gemeinsamen Bekannten Thomas Pfyl. Der körperlich beeinträchtigte Skifahrer, der wie Roger Bolliger bei Plusport zu den Zugpferden gehört, war für den Videodreh vorgesehen. «Er weilte dann aber auf dem Gletscher im Training und fand, ich wäre doch ein guter Ersatz», erzählt Roger Bolliger und lacht, «ich musste Shem zuerst googlen, aber seine Songs gefielen mir und er ist ein guter Typ.» Ab dem ersten Telefonat stimmte die Chemie. Eine Woche später folgte der Drehtag mit der Filmcrew Lumatics. Vom Restaurant Moser Sagi fuhr Roger Bolliger während vier Stunden im Raum Wiliberg hinter einem Auto her, aus dem der Kameramann filmte, später drehte die Crew bei ihm zuhause in Bottenwil. «Ich komme authentisch rüber», findet er. Neben ihm zeigt der Clip vier weitere Menschen, die wie Bolliger und Thomas den Mut haben, das zu tun, was sie lieben und sich weder von Handicaps, noch von gesellschaftlichen Vorstellungen hindern lassen.

Und da ist noch etwas, was den Sportler und den Musiker verbindet: Absagen. Bei Thomas waren es gecancelte Konzerte, bei Bolliger Rennen. «Du ‹schaffsch› und ‹schaffsch›, aber kannst dann nicht zeigen, was du gemacht hast», formuliert es der Athlet. Shem Thomas arbeitet seit drei Jahren an seinem Album, brachte sich autodidaktisch das Produzieren bei. Im Herbst 2021 soll die CD «8» erschienen. Für Bolliger hätten die Paralympischen Spiele in Tokio das Highlight werden können, ehe sie corona-bedingt um ein Jahr verschoben wurden, auch alle anderen Rennen fielen aus dem Kalender. Der Bottenwiler trainierte trotzdem weiter auf der Strasse und auf dem Bike, auf der Rolle oder im Velodrome in Grenchen. Und er genoss die wettkampffreien Wochenenden und «ungewohnt viel Zeit» mit seiner Partnerin.

Zwei Meistertitel und die Paralympics als Ziel

Dass er «zwäg» ist, bewies Roger Bolliger an der Schweizer Zeitfahr-Meisterschaften in Belp im Juli, wo er seinen 12. Meistertitel gewann. Im September organisierte der VC Pfaffnau-Roggliswil, bei dem sich der Aargauer als Leiter Kids-Bike engagiert, die erste Strassen-SM der Plusport-Athleten. Auch dieses hart umkämpfte Rennen entschied der Lokalmatador für sich. Für 2021 hofft Roger Bolliger, dass sich die Covid-19-Situation entschärft und er die Paralympics miterleben darf. Einen Motivationssong hat er nun: «Do it macht Mut – mir, und den Reaktionen aus meinem Umfeld nach vielen anderen.»