Das Luxusproblem von Sandro Burki

Es ist nicht die Lieblingsdisziplin von Sandro Burki. Doch an jenem Tag Ende Oktober – der FC Aarau liegt nach elf Spielen mit vier Punkten abgeschlagen am Tabellenende – kann der Sportchef nicht anders. Er geht im Stadion Brügglifeld in die Kabine, bittet um Ruhe und hält eine Brandrede. Reduziert auf zwei Sätze sagt er zu den Spielern: «Begreift es: Wir sind momentan die schlechteste Mannschaft der Challenge League, die Tabelle lügt nicht. Aber ich stehe hinter euch, dem Trainer und dem Staff, wir kommen da wieder raus.» Seither hat der FC Aarau von 17 Partien 12 gewonnen und nur eine verloren.

Statt die Angst um den Verbleib im Profifussball plagen Burki in diesem Frühling andere, angenehmere «Probleme». Challenge League oder doch Super League? Die Ungewissheit, in welcher Liga der FC Aarau in der nächsten Saison spielt, erschwert deren Planung. Primär in zwei Punkten: Burki möchte die Leihspieler Djordje Nikolic (Basel), Nicolas Bürgy und Linus Obexer (beide YB) gerne eine weitere Saison binden. Als Superligist stünden die Chancen dafür sehr gut. Bei einem Verbleib in der Challenge League hingegen wäre Burki darauf angewiesen, dass die Spieler die Wohlfühlatmosphäre und den Stammplatz in Aarau dem ungleich härteren Konkurrenzkampf bei einem Super-League-Klub vorziehen. Ebenfalls an Grenzen stösst Burki bei der Akquirierung neuer Spieler, etwa beim Ersatz für Topskorer Varol Tasar (im Sommer zu Servette), dessen Nachfolger der Königstransfer dieses Sommers sein wird. Die Berater potenzieller Neuzugänge wissen natürlich, dass ihre Klienten bei einem Aufstieg beim FC Aarau mehr verdienen können – und spielen auf Zeit.

Sind Burki also die Hände gebunden, bis klar ist, wohin die Reise geht? «Nein», sagt er entschieden, «Stand jetzt plane ich ein Kader, das in der nächsten Saison im oberen Bereich der Challenge League mitspielen kann. Aber es wäre fahrlässig, wenn wir keinen Plan für die Super League hätten.» Bei Veränderungen, seien es Ligawechsel oder plötzliche Spielerabgänge, sofort Plan B aus der Schublade zu ziehen, das mache einen guten Sportchef aus.

Wie Burki tricksen muss

Ganz ligaunabhängig – das Gerüst für die nächste Saison steht. In der Abwehr Jérôme Thiesson (ab Sommer), Marco Thaler und Raoul Giger, im Mittelfeld Markus Neumayr, Elsad Zverotic, Olivier Jäckle und Petar Misic sowie im Sturm Marco Schneuwly und Patrick Rossini – sie alle haben Verträge bis mindestens 2020. «Diesen Spielern traue ich zu, auch in der Super League zu bestehen», sagt Burki. Wie viele und vor allem wie gute Spieler dazukommen, das hingegen hängt ab von den finanziellen Möglichkeiten und somit von der Ligazugehörigkeit.

In dieser Saison wirft der FC Aarau rund 5,5 Millionen Franken für seine Profiabteilung auf. Bei einem Aufstieg wären es in der nächsten Saison zwischen 7 und 8 Millionen. Burki hätte zwar mehr Geld zur Verfügung, im Vergleich mit der Konkurrenz im Oberhaus aber immer noch das mit Abstand geringste Budget.

Für eine kompetitive Mannschaft wird er tricksen müssen, wie schon vor dieser Saison: Einerseits kann sich der FCA Kaliber wie Markus Neumayr, Elsad Zverotic, Marco Schneuwly oder Stefan Maierhofer nur leisten, weil gleichzeitig sechs Leihspieler im Kader stehen, die im «Unterhalt» praktisch nichts kosten.

Andererseits sind Burkis Verführungskünste gefragt. Er sagt: «Es gibt Spieler, die gehen dahin, wo sie einen Franken mehr verdienen. Aber solche Spieler sind die Ausnahme. Wir haben Spieler, die bei anderen Klubs mehr verdienen würden. Aber sie sind bei uns, weil wir ihnen von Anfang an das Gefühl gegeben haben, wichtig zu sein und wir uns extrem bemühen, wenn wir Interesse an einem Spieler haben.» Bestes Beispiel: Im Juni 2018 flogen Burki, Trainer Patrick Rahmen, Präsident Alfred Schmid und Vizepräsident Roger Geissberger nach Istanbul, um dort Markus Neumayr von einem Wechsel ins Brügglifeld zu überzeugen. Zwar entschied sich dieser zuerst für das Abenteuer im Iran, doch nach dessen vorzeitigem Abbruch bot er sich als erstes in Aarau an. Und nicht in Sion oder Luzern, die ihn auch gerne gehabt hätten und wo er deutlich mehr verdienen könnte. 

Das indirekte Lob

Sollte der FC Aarau in der Challenge League bleiben, steht weniger Geld als in der laufenden Saison zur Verfügung. Mit 5 Millionen ein Aufstiegskader bauen – ist das realistisch? «Es ist jedenfalls nicht unmöglich. Eines ist klar: In der Challenge League wäre in der nächsten Saison das Kader in der Breite nicht mehr so stark wie heute», sagt er. Entschlacken ist angesagt, gleichzeitig die Chance für die Jungen: Eigengewächse wie Mats Hammerich, Yvan Alounga oder die zu den Partnervereinen Wohlen und Baden ausgeliehenen Jan Burkard, Nicholas Ammeter, Marco Corradi und Noah Lüscher-Boakye würden in der Hierarchie aufsteigen.

Wegen der sensationellen Aufholjagd nach dem desaströsen Saisonstart wird Burkis Arbeit aktuell von etwas gar viel Konjunktiv durchkreuzt. Für ihn ein «Luxusproblem. Ich habe immer an die Qualitäten der Mannschaft geglaubt. Aber dass wir acht Spieltage vor Schluss ein ernsthafter Barrage-Kandidat sind, ist auch für mich überraschend.» Vor allem etwas stimme ihn zuversichtlich: «Die Erfahrung, zusammen eine tiefe Krise überstanden zu haben, hat die Spieler und alle Mitarbeiter zusammengeschweisst und gleichzeitig sehr selbstbewusst gemacht. Ein Fehler oder eine schwache Halbzeit hat nicht mehr zur Folge, dass alles auseinanderbricht. Die Spieler machen einfach weiter im Vertrauen, dass es gutkommt.»

Die guten Resultate hätten neben der sportlichen Spannung noch einen anderen Effekt, so Burki: «Ich bin im August 2017 als Sportchef angetreten mit dem Ziel, dass der FC Aarau wieder positive Schlagzeilen schreibt. Mittlerweile haben wir die Leute und die Strukturen, mit denen Erfolg möglich ist.» Dass er selber weniger präsent ist in der Öffentlichkeit als im Herbst, als er als Gesicht der Krise galt, sei erwartbar gewesen – und genau richtig: «Der Trainer und die Spieler haben die Aufmerksamkeit verdient. Ich muss mein Gesicht nicht jeden Tag in der Zeitung sehen. Positive Berichte über die Spieler sind indirekt ja auch ein Lob an mich.» 

 

Duell der Zuschauermagneten

Fällt heute Abend im Brügglifeld der bisherige SaisonZuschauerrekord (3777 am 21. Spieltag gegen Chiasso)? Wird im Spitzenspiel gegen Winterthur erstmals die 4000er-Marke geknackt? Fakt ist: Winterthur und Aarau gehören zu den Zuschauermagneten der Challenge League. Mit durchschnittlich 3593 Heimspiel-Besuchern führt «Winti» die Zuschauertabelle an – vor Lausanne (3152) und Servette (3039). Der FCA folgt auf Rang 4 mit durchschnittlich 2836 Zuschauern. Dem ist Folgendes hinzuzufügen: Servette und Lausanne profitieren in der Zuschauertabelle massiv von den Derbys; die bisherigen drei Lac-Léman-Duelle besuchten 7222, 8032 und 10 545 Besucher – es sind dies die mit Abstand am besten besuchten Challenge-League-Partien in dieser Saison. Aber: In den 12 Heimspielen, in denen der Gegner nicht Servette hiess, blieb in Lausanne die Zuschauerzahl stets unter 3000, siebenmal gar unter 2000 – der Schnitt beträgt 2079. Der Schnitt der Genfer ohne das Heimspiel gegen Lausanne sinkt auf 2689. Heisst: Mit Aarau und Winterthur treffen heute Abend die Klubs mit der grössten Menge an treuen Heimspiel-Besuchern aufeinander. Interessant ist auch ein Blick auf die Ticketpreise: Auf der «Schützenwiese», der Heimstätte von Winterthur, kostet ein gedeckter Sitzplatz auf der Haupttribüne 30 Franken. Heute Abend im Aarauer Brügglifeld zahlt der Matchbesucher für einen Tribünenplatz 47 Franken. Stellt sich die Frage: Sind 90 Minuten in Aarau 17 (!) Franken mehr wert als in Winterthur? So viel wie im Brügglifeld kostet in der Challenge League sonst kein Haupttribünen-Ticket – Lausanne verlangt 30 Franken, Servette 40.