Das Wunder von Ouchy

Stellen Sie sich vor: Nach dreieinhalb Jahren verlassen Sie schweren Herzens Ihren Arbeitgeber und unterschrieben woanders, weil dort die langfristigen Perspektiven besser sind. Doch kaum haben Sie am neuen Ort begonnen, heisst es: kein Geld mehr da. Wenn in wenigen Tagen keine Lösung auf dem Tisch ist, gehen die Lichter aus.

So ergeht es Michael Perrier im Januar 2019. Mit einem weinenden Auge verabschiedet sich der Mittelfeldspieler trotz weiterlaufendem Vertrag nach 108Einsätzen für den FC Aarau, um mit einem lachenden Auge beim damaligen Promotion-League-Leader Stade Lausanne Ouchy (SLO) anzuheuern: Am Lac Léman bekommt er trotz angefangener Ausbildung zum Physiotherapeuten eine wichtige Rolle auf dem Spielfeld. Und einen Vertrag bis Mitte 2021, dank dem er seine Ausbildung finanzieren konnte.

Doch dann der Schock. Der Vorstand schmeisst wegen Hochstapelei Präsident Resul Sahingöz raus – mit der Folge: SLO hat 11 Punkte Vorsprung auf die Verfolger, doch ein halbes Jahr vor dem Aufstieg in die Challenge League kein Geld mehr. Perrier bangt um sein eben erst aufgebautes Lebensmodell. Wie soll er ohne Profilohn die Ausbildung bezahlen?

«Ich habe grosses Glück gehabt», sagt Perrier rückblickend, «ohne ihn wäre meine Profikarriere wohl vorbei gewesen». Mit «ihn» meint er den Armenier Vartan Sirmakes, Boss der Luxus-Uhren-Firma Franck Muller und 400 Millionen schwer. Dieser übernimmt im Januar 2019 SLO. Das Spezielle daran: Sirmakes ist gleichzeitig der Präsident von Stade Nyonnais, in der Tabelle erster Verfolger von SLO. Im Amateurbereich darf eine Person zwei Klubs besitzen, also sagt sich Sirmakes damals: Ich will in den Profifussball, mit Yverdon aber werde ich SLO sportlich nicht mehr einholen: Warum nicht die Gelegenheit nutzen, bevor es ein anderer tut?

Die Premierensaison im Profifussball beendet SLO als Siebter vor dem FC Aarau. Noch besser läuft es in dieser Spielzeit: Die Gegner rühmen SLO reihenweise, nach 12 Spieltagen sind Perrier und Co. nach Verlustpunkten Zweiter.

Für Aussenstehende ist der Quartierklub aus Lausanne das Überraschungsteam der Challenge League, nicht so für Perrier: «Wir sind keine Eintagsfliege und stehen nach 11 Spielen zu Recht da oben.» Vor dem Spitzenspiel heute Abend gegen den FC Aarau erklärt Perrier das Erfolgsrezept von SLO:

Trainerwechsel

Andrea Binotto geniesst bei SLO Legendenstatus. Von 2013 bis 2019 coacht er den Klub von der fünftklassigen 2. Liga interregional in die Challenge League. Während der Coronapause in diesem Frühling verlässt er wegen Differenzen mit Präsident Sirmakes den Klub. Sein Nachfolger ist Meho Kodro. Der Serbe, als Spieler ein Jahr lang Stammkraft beim FC Barcelona, hat die Philosophie von SLO umgekrempelt: Agieren statt Reagieren. «Jede erfolgreiche Mannschaft trägt die Handschrift ihres Trainers. Auch mich erstaunt, wie schnell wir Kodro verstanden haben», sagt Perrier.

Professionalisierung

Die Spieler von SLO lebten auch schon in der vergangenen Saison vom Fussball, die Strukturen indes hinkten dem rasanten Aufstieg der vergangenen Jahre hinterher. Das ist nun anders: Die Mannschaft trainiert vormittags, nicht mehr abends. Weitere Veränderungen, etwa die Einführung der vermeintlich banalen Videoanalyse, zeigen gemäss Perrier grosse Wirkung.

Der RAV-Trick

Offiziell operiert SLO in dieser Saison mit 1,7 Millionen Franken. Wie kann sich der Klub trotzdem Spieler leisten, die bis diesen Sommer Stammkräfte in der Super League waren oder kürzlich noch in der französischen Ligue 1 aufliefen? Perrier will sich zum heissen Eisen «Finanzen» nicht äussern. Kenner der welschen Fussballszene indes sind sich sicher, dass SLO den «RAV-Trick» anwendet, ein gängiges Mittel in der Challenge League: Namhafte Spieler werden zu Billiglöhnen angestellt, die Differenz zum bis dato versicherten Lohn übernimmt die Arbeitslosenkasse. Maximal 24Monate ist dies erlaubt: In dieser Zeit müssen sich die betroffenen SLO-Spieler für einen Vertrag bei einem finanziell besser dotierten Klub empfehlen, ansonsten ist die Profikarriere vorbei. Davon profitiert SLO, das um motivierte Spieler weiss.

Umzug in die Pontaise

Weil die Lichtanlage im Heimstadion «Juan Antonio Samaranch» nicht TV-tauglich ist, musste SLO in der vergangenen Saison ins Exil nach Nyon. «Das war nicht förderlich für die Motivation», sagt Perrier. Wenns hoch kam, verirrte sich an Heimspielen gerade mal eine Hand voll SLO-Fans ins 30 Kilometer entfernte Stade Colovray. Nach dem Umzug von Stadtrivale Lausanne-Sport ins neue «Stade de la Tuilière» darf nun SLO auf der altehrwürdigen Pontaise spielen. Zwar eine in die Jahre gekommene Bruchbude, aber mit Strahlkraft. «Für die Spieler aus der Region war es immer ein Bubentraum, in der Pontaise spielen zu können», sagt Perrier.