Der Bündner Martin Bühler ist der Kopf hinter der innovativsten Schweizer Corona-Politik

Ein paar Züge Pause, hastig inhaliert. Dann geht es weiter für Martin Bühler. Er drückt die Zigarette in den Aschenbecher. Schiebt die Türe auf. Greift nach dem Handy, das wieder einmal klingelt. Dürfte wichtig sein. Ist es auch. Corona-Ausbruch an einer Schule in Arosa, 11 Fälle vorerst, das mutierte Virus. Bühlers Augen weiten sich ein wenig, «gleiches Vorgehen wie in St. Moritz», sagt er. Das heisst: Flächentests, schnell.

So geht das seit Wochen, Monaten im Leben des Martin Bühler, Chef Corona-Krisenstab im Kanton Graubünden: Ein Problem ploppt auf. Und Bühler muss eine Lösung liefern. Der 44-Jährige steht im Zivilschutzzentrum Meiersboden am Rand von Chur, einem grauen Gebäude, in dem es genau so aussieht, wie man sich das vorstellt: Linoleumböden, alles ziemlich spartanisch. In den Gängen aber brummt das Leben, und alles dreht sich um Bühler, einen Mann mit zackigem Schritt. Er hat seinen Kanton in den letzten Wochen in eine Art Labor für den Umgang mit der Corona-Pandemie verwandelt.

Im Meiersboden laufen die Bündner Corona-Fäden zusammen. Weit weg, in Bern, tritt an diesem Mittwochnachmittag Alain Berset auf. Der Bundesrat verkündet, dass der Bund künftig auch für präventiv durchgeführte Tests – etwa in Altersheimen oder Schulen – zahlt. Das Ziel solcher Tests ist es, asymptomatische Personen zu finden – und zu verhindern, dass sie das Virus verbreiten.

Die Änderung ist wichtig, weil sie den Kantonen hohe Kosten abnimmt. Der Bund rechnet mit Ausgaben von einer Milliarde Franken. Dass er sie schultern will, hat einiges mit der Arbeit von Martin Bühler zu tun – auch wenn ihm viel daran liegt, zu betonen, dass in Graubünden alles Teamwork sei. Bühler aber ist der Kopf des Teams, dass schon seit Dezember auf präventive Tests setzt. Am Anfang hat man das in Bern skeptisch betrachtet. Doch das hat sich geändert, was auch an den ersten Bündner Erfahrungen liegt.

Krisenstabschef Bühler macht keinen Hehl daraus, dass ihn das freut. Allerdings ist es nicht so, dass der Bundesrat auf den Bündner Weg eingeschwenkt wäre. Denn der geht deutlich weiter, weil er viel mehr präventive Tests vorsieht. Nicht nur in Altersheimen und Schulen. Sondern auch in der breiten Bevölkerung. Und auch in den Betrieben. In diesen Tagen läuft das entsprechende Projekt an. Wer mitmacht, erhält regelmässig ein Testkit zugeschickt, das der Kanton dann mit einem ausgeklügelten System und der Hilfe der Rhätischen Bahn wieder einsammelt. Der Anreiz für die Teilnehmer: gelockerte Quarantäneregeln. Eine Idee, die Epidemiologen skeptisch betrachten und beim Bund noch für Gesprächsbedarf sorgen dürfte.

Im obersten Stock des Zivilschutzzentrums sind zwei Betten in ein Zimmer gezwängt. Eines von ihnen ist seit Anfang Januar das Zuhause von Bühler. Der Chef verlässt sein Labor gerade nicht einmal nachts. Ins Prättigau, wo er mit seiner Frau und den drei Kindern lebt, schafft er es fast nie. Bühler sagt, er wolle seine Familie vor dem Virus schützen. Und er könne sowieso kaum abschalten, wenn er ein Projekt noch nicht «zum Fliegen» gebracht habe.

Ein Krisenmanager, der sich mit Krisen auskennt

Am Anfang der Bündner Corona-Strategie standen die hohen Fallzahlen, welche das Land im Herbst in Atem hielten. Bald einmal war die Rede von einem neuen Lockdown. In Chur stellte man sich damals die Frage, ob es nicht vielleicht auch anders ginge. Mehr Aktion. Weniger Reaktion. «Wir wollen die Pandemie steuern – und nicht umgekehrt», sagt Bühler.

Im Dezember testen die Bündner in Pilotprojekten ganze Täler durch, später Schulen, Betriebe, Dörfer wie St. Moritz oder aktuell Arosa, in denen das Virus um sich greift. Das Ziel: asymptomatische Personen finden, so Übertragungsketten unterbrechen – und damit Risikogruppen schützen. Kurzum: Dem Virus zuvorkommen. Und schliesslich und vor allem: Insgesamt zielgerichtetere Massnahmen finden.

Die Pandemie hat am Selbstverständnis der Schweiz gerüttelt und Fragen aufgeworfen. Zum Beispiel jene, ob wir Krisen nicht können, weil wir es nie lernten. Bei Martin Bühler stellt sie sich nicht. Der 44-Jährige leitete das Bündner Amt für Zivilschutz und Militär erst ein paar Monate, als in Bondo Teile des Piz Cengalo ins Tal stürzten. Fortan war er für ein paar Wochen der Chef des Krisenstabs. Zuvor hatte der studierte Politologe im Auftrag des Verteidigungsministerium in Konfliktgebieten gearbeitet. Er sagt, seine Erfahrungen hätten ihn gelehrt, ruhigen Kopf zu bewahren. Und auch einmal eine Entscheidung zu treffen, wenn man nicht alles wisse. «Sonst läuft man in Gefahr, nur zu reagieren», sagt er.

Agiert haben sie in Graubünden, so viel steht fest. In den letzten Wochen hat kein anderer Kanton mehr getestet. Die Bündner haben viel Knowhow gesammelt. Etwa darüber, wie man Massentests effizient aufbaut. Das ist schon einiges. Doch ob die Strategie aufgeht, ist noch offen, weil sie erst hochgefahren wird. Bei den Fallzahlen auf 100000 Einwohner im letzten Monat liegt Graubünden schweizweit im Mittelfeld. Krisenchef Bühler sagt, auch er wisse nicht, ob sein Plan funktioniert, doch zwei Zahlen machen ihm Mut: Jene aus dem Puschlav, wo dank zweier Massentests die Fallzahlen auf Null sanken. Und jene aus St. Moritz, wo nach einem Ausbruch in Hotels rasch Massnahmen ergriffen wurden – und diese Woche noch 0,6 Prozent der Tests positiv ausfielen.

In Arosa, dem neuesten Ausbruchs-Hotspot, waren bis gestern 20 Fälle bekannt. Ab heute laufen Massentests – und gleichzeitig die Skilifte weiter. Das ist, natürlich, ein Widerspruch. Und er erzählt einiges über den Bündner Weg. Der Bergkanton, der jeden dritten Franken mit dem Tourismus verdient, lässt sich im Kampf gegen Corona auch so viel einfallen, weil er offen bleiben will. Bühler sagt, sein Ziel sei vor allem eines: das Virus zu vertreiben, dabei möglichst wenig Schaden anrichten – und so mithelfen, dass die Schweiz aus der Krise findet.