Der Daniel Koch Schwedens fährt eine ganz eigene Linie: Er führe sein Land ins Verderben, sagen Kritiker

Er wird als verantwortungslos beschimpft, als inkompetent: Anders Tegnell, oberster Epidemiologe der Gesundheitsbehörde Schwedens, habe die Coronagefahr von Anfang an falsch eingeschätzt, kritisierten 22 Forscher diese Woche.

Tegnell führe das Land in eine Tragödie, so ein Pandemieexperte, während die Virologin Cecilia Söderberg-Nauclér von einem «Hochrisiko-Experiment» spricht, das deutlich höhere Todeszahlen als in den Nachbarländern bringe. Tegnell müsse zurücktreten, und es sei ein sofortiger Lockdown nötig – statt wie bisher ein Sonderweg mit offenen Primarschulen, Restaurants und Versammlungen bis 50 Personen.

Anders Tegnell hielt darauf wie meistens um 14 Uhr eine Pressekonferenz ab. Etwas steif steht er jeweils da, er war schon als Schüler nicht gut im Turnen, und immer ohne Anzug. Roter, grüner, beiger Pullover, darunter oft ein Poloshirt – so ist der 63-Jährige mit lockerer Kleidung weltweit als Architekt der lockeren Strategie Schwedens bekannt geworden.

Und der lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er wirkt etwas unsicher, aber nur, bis er den Mund aufmacht; dann ist der erfahrene Infektiologe in seinem Element.

In wenigen, nüchternen Sätzen wischt er die Kritik beiseite: Die Forscher hätten Fakten verdreht und Zahlen falsch interpretiert. «Natürlich haben wir eine durchdachte Strategie», sagt er bissig. Eine Krise sieht Tegnell nicht; die Lage in Stockholm sei «angestrengt», aber die Entwicklung stabil, die Kurven sollten bald abflachen. Immerhin gibt er aber zu, dass Schweden in den Altersheimen gescheitert sei. Dort ist das Virus weit verbreitet, drei Viertel der Corona-Opfer sterben dort.

In den Sozialen Medien wimmelt es von Tegnell-Fans

Bei seinen Auftritten wirkt Tegnell manchmal wie ein belehrender, arroganter Professor, doch Tegnell weiss, dass die Pandemie für alle Länder grosse Unsicherheitsfaktoren mit sich bringt – und er nicht alleine dasteht: Er hat einen Amtschef, eine Vielzahl Experten in der Gesundheitsbehörde und eine Regierung, die ihm öffentlich den Rücken stärken und die Strategie verteidigen. Auch eine Mehrheit der Bevölkerung ist laut Umfragen damit einverstanden. In sozialen Medien jubeln grosse Fan-Gruppen dem «coolen» Tegnell zu – dies auch als Reaktion auf die vielen Hass- und Drohmails, die in seiner Inbox landen.

Krise? Welche Krise? Strassenszene aus Stockholm vom Osterwochenende: Die Cafés und Restaurants haben ganz normal geöffnet. (Bild: Keystone)

Krise? Welche Krise? Strassenszene aus Stockholm vom Osterwochenende: Die Cafés und Restaurants haben ganz normal geöffnet. (Bild: Keystone)

© CH Media

Durch langjährige Arbeit für WHO, EU und schwedische Behörden sowie Studienaufenthalten in den USA und Grossbritanien verfügt der Arzt über ein grosses Netzwerk. Er weiss, dass Epidemiologen in Dänemark und Norwegen seine Meinung in manchem teilen, etwa Schulschliessungen ebenfalls für wenig nützlich halten – aber von der Politik übertönt wurden.

Dennoch ist es frappant, wie anders Schweden agiert. Tegnell streicht die gravierenden Folgen eines Lockdowns für die Gesellschaft hervor, wirtschaftliche, soziale, psychische. Deshalb seien massvolle Einschränkungen, die die Leute notfalls sehr lange ertragen, das Richtige, sagt er. Zugleich macht er klar, dass es ohne einen langsamen, für die Spitäler verkraftbaren Anstieg der Ansteckungen nicht gehe: Entweder erhalte man eine Impfung – oder das Virus verteile sich so lange, bis in der Bevölkerung genügend Immunität bestehe: «Einen anderen Weg, um es zu stoppen, gibt es nicht.»

Herdenimmunität im Sinne einer schnellen Verbreitung sei aber nie das Ziel Schwedens gewesen. Doch gebe es in Stockholm bereits Anzeichen für einen baldigen hohen Immunitätsgrad, und Schweden sei generell weiter als Länder mit striktem Lockdown. Diese warnt der Chefepidemiologe: Die jetztige Öffnung könne zu einem plötzlichen Anstieg der Ansteckungen führen, und eine zweite Welle könnte erneute Restriktionen erfordern.

Was der Epidemiologe von Ebola gelernt hat

Für Tegell war es prägend, als er 1995 während des Ebola-Ausbruchs nach Kongo geschickt wurde. In einem Interview erzählte er, wie es ihn als jungen Arzt erschüttert habe, dass wegen der Ansteckungsgefahr die meisten Operationen getrichen und der Spitalbetrieb reduziert wurden, worauf viele Menschen starben. Seither warnt er vor schnellen, unüberlegten Restriktionen.

In Schweden müssten zudem die Kultur und das Vertrauen in die Behörden berücksichtigt werden, sagt er. Deshalb werde wegen Corona nur wenig verboten, sondern man appelliere an die Bevölkerung, freiwillig im Home Office zu arbeiten, Kontakte zu minimieren; Leute mit Symptomen und Risikogruppen sollen unbedingt zu Hause zu bleiben.

Solches diskutiert der 63-Jährige gerne auch in der Familie, mit seinen drei erwachsene Töchtern, eine Ärztin, eine Ingenieurin und eine Krankenschwester. Seine holländische Frau ist Dozentin für Volksgesundheit. Mit ihr lebt Tegnell eine Stunde von Stockholm entfernt auf dem Land, in seinem alten Elternhaus. Nach Feierabend gärtnert er dort, um vom Druck des Jobs loszukommen. Ein «bisschen bünzlig», sei er durchaus, sagt er. Allerdings hindert ihn das nicht, gegen den Strom zu schwimmen.

Ob dies beim schwedischen «Experiment» aufgehen wird, ist fraglich – ein abschliessendes Fazit wird aber noch eine Weile nicht möglich sein.