
Der Einwohnerrat als Auslaufmodell?
Gemeindeversammlung und damit direkte Demokratie oder «Gängelung» durch einen proportional nach den Wähleranteilen der Parteien zusammengesetzten Einwohnerrat? Diese Frage wurde letzte Woche aufgeworfen (Ausgabe vom 12. Februar). In der Sache geht es um zwei kommunale Volksabstimmungen in der Gemeinde Buchs. Dort haben die Stimmbürgerinnen und -bürger in Referendumsabstimmung nein zur Prüfung eines Fusionsprojekts und zu einer Steuerfusserhöhung gesagt. Damit sind die Beschlüsse des Einwohnerrats Makulatur und der Regierungsrat wird der Gemeinde einen Steuerfuss – ein Budget – aufzwingen. So will es das Gesetz. Aber deshalb Abschied von der Institution des Einwohnerrats nehmen?
Manche Bürgerin und mancher Bürger will das Heft in der Hand behalten, nicht das direkte Stimmrecht in Sachfragen an 40 oder 50 Leute abtreten – so hat Oftringen 2015 eine Wiedereinführung des Einwohnerrats abgelehnt. Das mit dem Heft darf man weiterhin – falls man am politischen Leben teilnimmt. Das Gremium Einwohnerrat ist das Abbild der Gemeinde im Kleinen – ihrer Menschen, Quartiere und politischen Strömungen. Und dies institutionalisiert und nicht nach Zufallsprinzip.
Wie wird das Recht, an der Gemeindeversammlung teilnehmen zu dürfen, genutzt? In Oftringen – um ein Beispiel aus der Region zu nennen – gibt es rund 7200 Stimmberechtigte, an den Gemeindeversammlungen sieht man deren 120 bis 200. «Les absents ont toujours tort.» Die Gefahr ist eine andere: die Steuerung der Gemeinde durch Interessengruppen, die nur dann an der Gemeindeversammlung teilnehmen, wenn es um ihre Wurst geht.
Das Klagelied der tiefen Stimmbeteiligung anstimmen? Nein, weil sein Refrain das Problem zu oberflächlich abbildet. Das zeigt eine Untersuchung des Zentrums für Demokratie Aarau und der Fachhochschule Nordwestschweiz. In ihr wurden die Stimmregisterdaten der Städte Genf und St.Gallen über einen Beobachtungszeitraum von mehreren Abstimmungsterminen ausgewertet. Kumuliert hatten sich 75 Prozent der Bürgerinnen und Bürger an mindestens einer Volksabstimmung beteiligt. Ein Zeichen für eine «Betroffenheitsdemokratie»? Dafür, dass man nur dann zur Urne geht, wenn einen das Thema betrifft oder tangiert? Ja, aber auch Nicht-Abstimmen kann eine Aussage sein und ist ein Recht – das unsere Parlamentarierinnen und Parlamentarier per Stimmenthaltung ausüben. In der Bundesverfassung gibt es keine Stimmpflicht, sondern ein Stimmrecht.
Weshalb will man direkt vor der Haustüre, im unmittelbaren Lebensumfeld, die politischen Weichen nicht mit stellen? Steuern Demokratie und Gemeindepolitik derselben Krise zu, in der sich seit längerem eine Vielzahl unserer Dorfvereine befindet? Das Neben- und Ehrenamt ist unattraktiv geworden, weil die wachsenden Anforderungen an Kommunalpolitikerinnen und -politiker mit individualisierten Lebensstilen kollidieren. Diese Feststellung gilt auch für die Stimmbürgerinnen und -bürger. Die Welt um sie herum ist komplex geworden. Ein Budget kompetent beurteilen, an einer Gemeindeversammlung ein fundiertes Votum abgeben zu können, ist mit Arbeit, Zeitaufwand und dem Mut verbunden, sich zu exponieren.
Geschaffen wurden die Einwohnerräte nicht vor dem Hintergrund einer Politikverdrossenheit. Im Gegenteil: Noch vor Einführung des Frauenstimmrechts (1972) platzten in den 1960er-Jahren in grossen Aargauer Gemeinden die Versammlungslokale aus allen Nähten. Das Rezept hiess kommunales Parlament. Bis heute beibehalten wurde das Konzept in Aarau, Baden, Brugg, Buchs, Lenzburg, Obersiggenthal, Wettingen, Windisch, Wohlen und Zofingen – wo es sich bewährt hat. Auch andere Kommunen sahen einst in der indirekten, parlamentarischen Demokratie einen Vorzug. So Aarburg (1972–1989), Neuenhof (1966–1997), Oftringen (1974–1989), Spreitenbach (1974–1985) und Suhr (1974–1981).