
«Der Fernunterricht an unserer Schule funktioniert nicht» – FDP-Präsident Lukas Pfisterer kritisiert den Bildungsdirektor
Sie sind Vater von fünf schulpflichtigen Kindern. Wie hat Corona Ihr Familienleben verändert
Lukas Pfisterer: Wir verbringen zu Hause viel mehr Zeit zusammen. Vor allem am Abend, weil es keine Veranstaltungen mehr gibt, die ich sonst als Politiker besuche. Und auch tagsüber bin ich meistens daheim im Homeoffice, mittlerweile habe ich mich gut eingerichtet.
Das klingt ziemlich positiv.
Soweit schon. Aber als wir in der ersten Welle alle Kinder zu Hause hatten, war es schwierig. Hier einloggen, da einloggen, alles organisieren ist schon sehr mühsam. Und kürzlich nochmals.
Sie waren in Quarantäne?
Ja, zehn Tage. Alle sieben. Unsere grössere Tochter, sie ist 6. Klässlerin, hatte Corona, wahrscheinlich aus ihrer Schule.
Hat es Sie auch erwischt?
Nein. Unsere Tochter war konsequent im Zimmer und hat niemanden zu Hause angesteckt.
Nach den Sportferien muss auch Ihre Tochter als 6. Klässlerin Maske tragen. Finden Sie das richtig?
Wenn dadurch der Unterricht stattfinden kann und weniger Familien in Quarantäne müssen, dann ja, ist die Maskenpflicht okay. Aber was ich wirklich unglaublich finde, ist, dass der Fernunterricht an unseren Schulen teils überhaupt nicht funktioniert.
Wie meinen Sie das?
Konkret unsere Schule hier in Aarau ist nicht durchwegs eingerichtet auf Fernunterricht. Auch fast ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie nicht.
Kein Schulstoff, keine Aufgaben?
Es gibt Schulen, dort funktioniert es. Aber an unserer Schule funktioniert der Fernunterricht nicht. Die Kinder müssen selbst schauen, wie sie zu ihrem Schulstoff kommen.
Primarschule oder Bez?
In der Zeit, als meine Familie in Quarantäne war, hatten die einen Kinder Arbeit aus der Schule, weil es die Lehrperson organisiert hatte, andere nicht. Es ist Glücksache, wo oder beim wem ein Kind in die Schule geht. Es kann nicht sein, dass das Bildungsdepartement jetzt für alle Schulen Maskenpflicht verordnet, aber sich nicht dafür zuständig fühlt, von allen Schulen Fernunterricht zu verlangen.
Ihre Kritik geht an Bildungsdirektor Alex Hürzeler. Was erwarten Sie von ihm?
Ganz klar: Als Bildungsdirektor hat er die Verantwortung, dass der Schulunterricht stattfindet. Er muss endlich dafür schauen, dass alle Schulen Fernunterricht anbieten.
Sie sehen die Coronapolitik des Kantons grundsätzlich kritisch. Die FDP hat den Regierungsrat in den letzten Wochen auffällig oft und scharf angegriffen.
Der Regierungsrat hat keine erkennbare Strategie. Es scheint, dass er bei Corona aus der Situation heraus entscheidet. Plötzlich wird die Maskenpflicht an Schulen eingeführt, dann ein Pilotprojekt zum Impfen an Schulen angekündigt, was andere Kantone längst machen. Es fehlt der rote Faden.
Was fehlt Ihnen konkret?
Wir FDP haben vom Regierungsrat vor Weihnachten verlangt, dass er uns seine Varianten und Szenarien offen legt. Eine konkrete Antwort haben wir leider nicht erhalten. Entweder hat er keine Szenarien erarbeitet. Dann soll er das sagen. Oder er hat welche, will sie aber nicht öffentlich machen. Dann soll er das auch kommunizieren. Weder noch geht nicht. Man muss der Bevölkerung vermitteln, warum man welche Massnahmen ergreift und was mittelfristig auf sie zukommen kann.
Wenn die Coronazahlen gefährlich steigen und das Gesundheitswesen in Bedrängnis kommt, werden die Massnahmen verschärft. Ist das zu wenig klar?
Es ist unbestritten, dass man Massnahmen ergreifen muss, wenn die Coronafälle stark zunehmen. Aber die einzelnen Massnahmen im Aargau sind schwer nachvollziehbar. Zuerst hiess es, man habe alles unter Kontrolle und plötzlich schliesst der Gesundheitsdirektor vor Weihnachten die Läden im Alleingang. Das gleiche bei den Schulen. Zuerst hiess es: Im Alleingang schliesse man nicht, kurz darauf tat der Bildungsdirektor es doch.
Man könnte auch argumentieren: Der Regierungsrat übernahm Verantwortung, indem er nicht zögerte, sondern konsequente Massnahmen ergriff. Der Virus interessiert sich nicht für den Kantönligeist.
Einverstanden. Trotzdem: Die zweite Welle kam nicht aus heiterem Himmel. Man war schlicht zu wenig vorbereitet.
Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati ist Major und macht geltend, er könne in der Pandemie anwenden, was er im Militär gelernt habe: Lage beurteilen, Entschluss fassen, Aufträge erteilen. Genau das, was Sie einfordern.
Sehen Sie, es gibt den kantonalen Führungsstab genau für solche Krisen. Der wurde im Sommer ohne Not von Corona abgezogen. Das ist unverständlich. Diese Einheit könnte viele Aufgaben übernehmen, beraten und die Verwaltung entlasten. Warum auch immer der Regierungsrat darauf verzichtet – man redet von personellen Unverträglichkeiten – es ist unverständlich.
Der Gesundheitsdirektor braucht dieses Gremium offensichtlich nicht oder kann es nicht brauchen. Was könnte ein solcher Führungsstab den konkret helfen?
Beim Impfen etwa könnte er zum Einsatz kommen.
Vertraut man als Bürger nicht lieber den Spezialisten aus dem Gesundheitswesen?
Beim Medizinischen selbstverständlich. Aber der Führungsstab hätte die Impfzentren organisieren und betreiben können. Das wäre eine Entlastung für die Spitäler.
Gallati hat sich von aussen einen Impfchef geholt. Kein guter Entscheid?
Er kam einfach sehr spät. Erst um Weihnachten herum. Auch hier sieht man: Statt vorauszudenken, handelt die Führung von Tag zu Tag.
Wenn Sie selbst vorausschauen: Was ist als nächstes wichtig in der Pandemiebewältigung?
Neben dem Schutz der Risikogruppen, der Entschädigung für wirtschaftliche Opfer und dem Impfen ist es ganz wichtig, den Menschen eine Perspektive zu geben. Es ist keine Perspektive, wenn der Bundesrat uns nur sagt, mit Lockerungen Anfang März dürfen wir nicht rechnen. Wir wissen überhaupt nicht, wo wir stehen.
Soll man Ende Februar die Läden wieder öffnen?
Wenn es irgendwie möglich ist, ja. Das kann man auch schrittweise tun. Wir brauchen jetzt eine Ausstiegsstrategie.
Ist das nicht das, was Sie kritisierten: kurzfristig lockern und damit einen Rückfall in Kauf nehmen?
Ich war gerade in den Skiferien, da standen beim Skilift alle diszipliniert mit Abstand an. Das zeigt, man kann mit guten Schutzmassnahmen einiges lockern. Und es gibt Dinge, die verstehe ich einfach nicht: Warum darf ich ins Sportgeschäft gehen und Skis mieten, sie aber nicht kaufen? Hier macht man es dem Gewerbe unnötig schwer.
Mit Gallati und Hürzeler besetzen zwei SVP-Politiker die Corona-Schlüsseldepartemente. Das Verhältnis zwischen FDP und der SVP scheint angespannt. Andreas Glarner kritisierte in einem Interview, was der Freisinn mache, sei nicht mehr normal, er lehne alles ab, was von der SVP komme.
Das kann ich nicht bestätigen. Im Grossen Rat können wir grundsätzlich gut mit der SVP zusammenarbeiten. Bei den Steuersenkungen für Firmen etwa ziehen wir am gleichen Strick.
Und mit Glarner persönlich?
In der Kantonalpolitik spüre ich Glarner nicht so. Unsere Ansprechpartnerin ist eher die Fraktionschefin.
Welches Verhältnis ist eigentlich komplizierter: das zur SVP Aargau oder zur FDP Schweiz?
(lacht) Der FDP Schweiz stehen wir natürlich näher. Petra Gössi war gerade kürzlich an unserem digitalen Parteitag…
…obwohl Sie ihr einen bösen Brief geschrieben und ihr vorgeworfen haben, es fehle die «proaktive, innovative und kommunikationsstarke politische Kraft» an der FDP-Spitze.
Das war ein interner Brief im Sinne einer konstruktiven Kritik. Gerade in der Coronakrise haben andere Parteien mehr Akzente gesetzt als die FDP und das wollten wir zur Diskussion stellen.
Ist das der Grund, warum die FDP Aargau unter Ihrer Führung auffällig offensiv die Coronapolitik der Kantonsregierung kritisiert?
(schmunzelt) Wenn das so ankommt, haben wir eines unserer Ziele erreicht.
Die FDP ist von zwei Seiten unter Druck. Von der SVP, die sich noch staatskritischer positioniert und von den Grünliberalen, die Bürgerliche mit grünem Gewissen anzieht. Wie kommen Sie aus diesem Dilemma?
Wir sprechen alle an, die Eigenverantwortung hochhalten und lieber arbeiten wollen, als vom Staat abhängig zu sein…
…das sagt die SVP auch.
Im Unterschied zur SVP wollen wir uns aber nicht abschotten. Wir sind weltoffen. Gerade im Aargau haben wir einen intensiven Austausch mit unseren Nachbarn in Süddeutschland.
Wie gewinnen Sie urbane Liberale, welche mehr Ökologie wollen?
Ich habe bereits 2017 bei meiner Antrittsrede als Kantonalpräsident gesagt, dass die FDP die Umwelt wieder mehr thematisieren muss. Wir wurden dann leider überholt von der Klimabewegung. Wir sind dennoch keine Umweltpartei. Wir sind eine Wirtschaftspartei, die auch Umweltpolitik macht.
Dann stützen Sie Gössis offensiven Klimakurs zu hundert Prozent?
Die Diskussion in der FDP Schweiz ist geführt. Wie die Kantonalpartei konkret zum CO2-Gesetz steht, sehen wir dann am Parteitag im Frühling.
Das ist kein so klares Statement, um potenzielle grünliberale Wähler abzuholen.
Wenn es konkret wird, ist auf uns Verlass. Wir haben das Energiegesetz unterstützt. Es wäre ein guter Kompromiss gewesen.
Ein weiterer Streitpunkt in der FDP ist das EU-Rahmenabkommen. Parteikollege Thierry Burkart fordert Übungsabbruch und zurück an den Start. Und Sie?
Hier bin ich anderer Meinung. Die bilateralen Verträge sind wichtig, darum muss der Bundesrat die Verhandlungen zu Ende zu führen. Wenn das Ergebnis auf dem Tisch liegt, sehen wir, ob es gut genug ist, um es zu unterstützen.
Sie treten im Mai als Parteipräsident zurück. Was stufen Sie als Ihren grössten Erfolg ein?
Generell, dass wir stets sehr nahe am Aargauer Volk politisieren. Meistens sind wir mit unseren Parolen bei der Mehrheit.
Das wird aber offensichtlich nicht honoriert. Die FDP hat bei den National- und Grossratswahlen beides Mal leicht verloren.
Aber nicht so viel wie die anderen grossen Parteien SVP und SP.
Nach dem Motto «Uns geht es schlecht, aber anderen noch schlechter»?
Wir konnten uns praktisch halten.
Was würden Sie rückblickend anders machen?
Das ist immer schwierig zu sagen.
Ich helfe: Nach dem Rücktritt von Franziska Roth hat die FDP bei der Regierungsratswahl die Chance verpasst, den Sitz zu holen, indem Sie die wenig erfahrene Janine Glarner gegen Jean-Pierre Gallati ins Rennen geschickt hat.
Das war ein Entscheid der Partei, da müssen wir nicht mehr darüber spekulieren. Man kann im Nachhinein immer anders handeln.
Dieses Jahr sind Kommunalwahlen. Was ist Ihr Ziel für die FDP?
Ich bin zuversichtlich, dass wir unsere Gemeinderatssitze halten können und auch in den Gemeinden mit Einwohnerräten gut abschneiden. In meiner Stadt Aarau sind wir sehr gut aufgestellt.
Und welches Pflaster ist besonders hart?
Vielleicht Lenzburg und Baden. In Lenzburg gibt es grössere Wechsel im Stadtrat, das ist unberechenbar. Und Baden ist bekanntermassen ein schwieriges Pflaster für alle.
Persönlich
Der 47-jährige Lukas Pfisterer ist seit 2017 Präsident der FDP Aargau. Nächsten Mai tritt er zurück, da er neu zweiter Vizepräsident des Grossrats ist und 2023 voraussichtlich für ein Jahr «höchster Aargauer» wird. 2006 bis 2017 war er nebenamtlich Stadtrat in Aarau. Pfisterer ist als selbständiger Anwalt tätig. Er lebt mit seiner Frau und den fünf Kindern in Aarau. Sein grosses Hobby ist das Radfahren (Rennrad und MTB) und Gärtnern.