Der Mittelstand – eine aussterbende Spezies?

Wir Aargauerinnen und Aargauer haben es gut. Monat für Monat verkündet uns das kantonale Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) die frohe Botschaft niedriger Arbeitslosigkeit. Verschiedenste Studien zeigen zudem auf, dass zwischen Murgenthal und Würenlos im Westen und Osten, Full und Dietwil im Norden und Süden der Mittelstand nach wie vor breit abgestützt ist – 60 Prozent der Bevölkerung gehören ihm laut gängiger Definition an. Alles gut? Bei oberflächlicher Betrachtung ja.

Der Begriff Mittelstand steht für das einstige Selbstverständnis einer ökonomischen und politischen Schicht. In ihm schwingt das Konzept der Ständeordnung mit, die in der Schweiz allerdings nie so ausgeprägt wie in Österreich-Ungarn oder im Deutschen Kaiserreich war. Den höheren Ständen, wie etwa dem Adel, kam in unserem Land eine geringe Bedeutung zu – und so galt der Mittelstand bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein als staatstragendes Element schlechthin. Der Mittelstand machte den Begriff des Liberalismus zu etwas Greifbarem – er verkörperte die Überzeugung, das Schicksal in den eigenen Händen zu haben.

Der Mittelstand ist eng mit dem Milizgedanken verknüpft. Als Bürger setzte man sich einst nicht nur für sein wirtschaftliches Weiterkommen ein, sondern engagierte sich auch in Militär und Politik. Erste Risse bekam dieses Karrierekonzept mit der 68erBewegung. Bürgerliche Institutionen wie Ehe und Militär wurden infrage gestellt – der Weltfriede schien vielen greifbar.

Die 68er-Jahre wirken bis heute nach. So hat sich das Selbstverständnis der gesellschaftlichen Mitte grundlegend verändert. Heute ist man in erster Linie nicht mehr Bürger, sondern Konsument. Einige Gemeinden bekunden Mühe, alle Ämter zu besetzen, und das Ansehen von Militärdienst und Zivilschutz schwindet seit Jahren. Weshalb Dienst leisten, wenn man diese Zeit für einen Sprachaufenthalt in den USA oder in Australien nutzen könnte? So verkommt der einst staatstragende Mittelstand zur anonymen Mittelschicht.

Erkennbar sind die Veränderungen auch in der Wirtschaftswelt. Der Patron wurde vom CEO abgelöst. Verantwortung wird nur noch für kurze Zeit übernommen, wie Studien zeigen. Die durchschnittliche Verweildauer eines Firmenchefs ist im deutschsprachigen Raum innert zehn Jahren um einen Viertel auf noch etwas über sechs Jahre zurückgegangen. Selbst der Schritt in die Selbstständigkeit hat sich grundlegend geändert. Eine Firmengründerin oder ein Firmengründer – ein «Start-up» – soll heute nicht mehr mit bürgerlichen Tugenden wie Sparsamkeit und lokaler Verankerung Wachstum erzielen. Als erfolgreich gilt, wer den Börsengang oder den Verkauf der Firma – und deren Geschäftsidee – schafft.

Globalisierung und Digitalisierung heissen die epochalen Kräfte. Sie diktieren, wie die Wirtschaft läuft, und damit auch, wie sich die sozialen Strukturen entwickeln. Ihre Umwälzungen lassen sich in der kleinen Schweiz weder aufhalten noch gross beeinflussen. Was aber bedeuten sie für den Mittelstand?

Er ist in seiner klassischen Ausprägung unter zusätzlichen Druck geraten. Teils wurde die Tätigkeit von mittelqualifizierten Arbeitskräften in Produktionsbetrieben in Schwellenländer ausgelagert, teils fiel deren Arbeit der Automation zum Opfer. Gleichzeitig stieg der Bedarf an Hochqualifizierten, an denen es speziell in der Region Zofingen fehlt, wie unlängst eine Studie der Neuen Aargauer Bank (NAB) vor Augen geführt hat.

Neue Stellen für Niedrigqualifizierte gibt es – meist im schlecht bezahlten Dienstleistungsbereich. Jene, die in der wirtschaftlichen Mitte ihren Platz verloren haben, finden sich oft hier wieder. Für sie bedeutet das einen gesellschaftlichen Abstieg sowie einen finanziellen Einschnitt. In der Schweiz ist diese Entwicklung bislang weit weniger dramatisch ausgefallen als in den USA – die Entwicklung bei uns scheint stärker in Richtung hoch qualifizierter Tätigkeiten zu gehen –, das gilt sowohl für Einwanderer als auch für Einheimische.

Dennoch: Die Zahl der Niedrigqualifizierten in der Erwerbsbevölkerung ist seit den 1990ern kontinuierlich angestiegen. Zudem gibt es immer mehr Langzeiterwerbslose. Deren Anteil ist zwar immer noch extrem gering, ist aber über die vergangenen fünfundzwanzig Jahre schrittweise gestiegen – eine Entwicklung, die in den offiziellen Arbeitslosenzahlen nur teilweise wiedergegeben wird, da dort auf die registrierten Menschen ohne Arbeit abgestellt wird, die Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung haben.