
Der Rückgang der Corona-Zahlen stockt – kommt die fünfte Welle oder lockern wir bald Massnahmen?
«Es sieht gerade wirklich, wirklich gut aus»: Unter diesem Titel erschien letztes Jahr am 26. September ein Interview mit dem Epidemiologen Marcel Salathé im «Tages-Anzeiger». An diesem Tag lag der 7-Tage-Schnitt der Corona-Infektionen bei 317. Zehn Tage später kletterte er über 1000. Die zweite Welle traf die Schweiz mit voller Härte.
Heute sind die Fallzahlen höher als vor einem Jahr – über 1000 pro Tag. Auch bei den Hospitalisationen und Todesfällen stand die Schweiz vor einem Jahr besser da. Und nun folgen die kalten Jahreszeiten. Die Menschen treffen sich vermehrt in Innenräumen, wo wegen der Kälte weniger gelüftet wird und das Ansteckungsrisiko deshalb grösser ist.
Eine schlechte Ausgangslage? Nein, findet der Epidemiologe Antoine Flahault von der Universität Genf. Er sagt: «Die Dynamik ist eine ganz andere als letztes Jahr. Die Zahl der Neuinfektionen sinkt rasch.»
Ist das Plateau schon wieder erreicht?
Die Corona-Taskforce des Bundes kommt in ihrer Einschätzung vom Dienstag zum selben Schluss: «In den letzten zwei Wochen ist die Tendenz mit einem deutlichen Rückgang der Zahl der Fälle wieder günstig.»
Allerdings zeigt der Blick auf den Sieben-Tage-Schnitt der Neuinfektionen, dass sich der Abstieg der Fallzahlen verlangsamt. Möglicherweise haben sie ein Plateau erreicht. Die Berner Kantonsärztin Linda Nartey mahnte an der Medienkonferenz des Bundesamts für Gesundheit am Mittwoch, die epidemiologische Lage stabilisiere sich auf hohem Niveau. Die kühleren Temperaturen der nächsten Wochen würden erfahrungsgemäss höhere Fallzahlen bringen.
Flahault ist zurzeit dennoch zuversichtlich. Insbesondere der R-Wert stimmt ihn optimistisch. Dieser wird auf zehn Tage zurück berechnet und zeigt den Trend der epidemiologischen Entwicklung an. Liegt er unter 1, nimmt das Infektionsgeschehen ab. Der aktuellste R-Wert für die Schweiz liegt bei 0,76. Die Situation unterscheide sich grundlegend vom letzten September, sagt der Epidemiologe. Bei einem R-Wert von 0,7 wären in einer Woche nur noch halb so viele Fälle zu erwarten. Bei einem R-Wert von 1,5 wären es hingegen doppelt so viele. «Die Situation ist günstig, auch weil wir die Impfung haben», sagt Flahault. Der R-Wert sei derzeit ausserdem aussagekräftiger als letztes Jahr, weil das Infektionsgeschehen höher sei.
Wie sieht es in einem Monat aus?
Die Entwicklung war in den letzten Wochen positiv – aber was heisst das nun für für die kommenden Tage? Flahault erstellt mit einem Team der Universität Genf sowie der ETH Lausanne und der ETH Zürich täglich Prognosen für die nächsten sieben Tage. Demnach gehen die Fallzahlen bis nächste Woche auf etwas über 800 zurück. Der R-Wert steigt hingegen leicht auf 0,78.
Weitergehende Prognosen hält Flahault derzeit nicht für möglich. Niemand könne neue Virusvarianten oder Infektionsausbrüche vorhersagen. Sein Optimismus bezieht sich deshalb auf die nächsten ein, maximal zwei Wochen.

Antoine Flahault.
Eine fünfte Welle und eine erneute Überlastung der Spitäler hält er nicht für ausgeschlossen. Dieses Szenario sei wegen der tiefen Impfquote in der Schweiz weiterhin möglich.
Die «sichere Zone» läge in Reichweite
Die Schweiz könnte aber innert zwei Wochen die «sichere Zone» erreichen – vorausgesetzt, der Abwärtstrend nimmt wieder Fahrt auf. Flahault bezeichnet damit den Bereich unter 60 Neuinfektionen pro 100’000 Menschen innert 14 Tagen. «In diesem Bereich wäre das Risiko einer Ansteckung sehr gering.» Das BAG nutzte diesen Grenzwert für seine Liste der Risikoländer. Wer aus einem Risikoland einreiste, musste zehn Tage in Quarantäne.
Derzeit liegt die Inzidenz knapp unter 200 – der Grenzwert ist noch relativ weit weg. Trotzdem sagt Flahault:
«Wenn wir die sichere Zone erreichen, könnten wir gewisse Massnahmen lockern.»
Konkret: Restaurants, Kinos sowie Museen von der Zertifikatspflicht befreien und die Maskenpflicht auf den öffentlichen Verkehr beschränken. Die Testpflicht für Ungeimpfte bei der Einreise in die Schweiz soll hingegen bestehen bleiben.
Die Massnahmen zu lockern, sei unter Forschenden höchst umstritten, räumt Flahault ein. Er sei aber der Meinung, eine Lockerung könne in der Bevölkerung Energie freisetzen, die im Winter vielleicht nötig sein werde. Und da setzt der Epidemiologe das grosse Aber: Sobald die Zahlen wieder stiegen, müssten die Massnahmen wieder eingeführt werden – und nicht erst, wenn das Gesundheitssystem kurz vor dem Kollaps stehe.