
Deutschland hat viel weniger Infizierte als die Schweiz – doch warum sind unsere Zahlen im Vergleich so hoch?
Die Kurven der Neuinfektionen verlaufen in Europa unterschiedlich. Obenaus schiesst Spanien, gefolgt von Frankreich. Die Schweiz liegt mit 31 Neuinfektionen auf 100’000 Einwohner in den letzten sieben Tagen zwar deutlich tiefer, aber doch um einiges höher als der nördliche Nachbar. In Deutschland werden dreimal weniger Neuinfektionen gemeldet als bei uns, obwohl die Deutschen die Coronakrise ähnlich zu meistern versuchen.
Verteilung der Neuinfektionen zentral
Ländervergleiche sind aber mit Vorsicht zu betrachten. Denn die Coronadaten werden in jedem Land unterschiedlich erhoben, und das Testsystem unterscheidet sich auch. Und wie in der Schweiz in den Kantonen sind die Fallzahlen auch in den deutschen Bundesländern sehr unterschiedlich: Bayern, Nordrhein-Westfalen und Hessen sind deutlich mehr betroffen als andere Landesteile. Bei uns verzeichnet derzeit das Waadtland beinahe die Hälfte aller Ansteckungen.
So ist für die Beurteilung der Coronasituation nicht nur die Infektionszahl im gesamten Land wichtig, sondern die Verteilung der Neuinfektionen. Interessant sind die Bedingungen, die an einem Ort zu Ausbrüchen führen können. Im Waadtland führt man den heftigen Ausbruch unter anderem darauf zurück, dass in Genf Clubs und Bars geschlossen worden sind, was die Partygänger nach Lausanne getrieben hat, wie der Epidemiologe Marcel Tanner von der Taskforce des Bundes erklärt.
«Wir sind einer der grössten Kantone und haben mit Lausanne eine der grössten Städte im Land. Und gerade dort spielt das Nachtleben eine grosse Rolle», sagt die Waadtländer Staatsratspräsidentin Nuria Gorrite zum neuen Hotspot der Schweiz.
In deutschen Ballungszentren sind die Zahlen wie in der Schweiz
Solche Hotspots gibt es in Deutschland auch, zum Beispiel in München, wo es zur Zeit dreimal mehr Ansteckungen gibt als im Durchschnitt Deutschlands. Die gesamthaft tieferen Durchschnittszahlen als bei uns haben also auch damit zu tun, dass es in Deutschland weite Landstriche gibt, die kaum befallen sind und die, was die Mobilität der Menschen betrifft, kaum miteinander verbunden sind.
Die Schweiz ist im Vergleich dazu ein zusammenhängendes Ballungsgebiet mit viel mehr Austausch zwischen den Menschen. Die Ballungszentren Deutschlands weisen denn auch ähnliche Infektionszahlen wie die Schweiz aus.
Ein Unterschied besteht beim Tourismus. «In Deutschland sind offenbar 40 Prozent der Neuinfizierten Ferienrückkehrer. In der Schweiz nur etwa die Hälfte», sagt Marcel Tanner. Das heisst, in der Schweiz ist das Problem mehr hausgemacht als bei den Nachbarn. «Somit herrscht mehr Dynamik aufgrund der eigenen Übertragung», sagt der Epidemiologe.
Diese unterschiedliche Dynamik kann aber nicht nur mit den angeordneten Schutzmassnahmen zu tun haben, denn diese sind in Deutschland und der Schweiz inzwischen ähnlich. «Entscheidend ist das Verhalten. Wie konsequent der Einzelne Weisungen umsetzt», sagt Tanner.
Italien trägt die Maske mit Disziplin
Es ist ein Unterschied, ob sich alle schon beim Verlassen des Zugs ihre Masken vom Gesicht reissen oder damit warten, bis sie das Gewühl der Bahnhofshalle verlassen haben. Da bemüht man nun gerne das Klischee des disziplinierten Deutschen. Das ist Spekulation, als besonders flatterhaft sind wir Schweizer auch nicht bekannt. Generell geht es nicht nur um die Masken, sondern auch darum, wie die Schutzkonzepte in Clubs, Restaurants und an anderen Orten gelebt werden.
Eine Nord-Süd-Differenz ist zwischen Deutschland und der Schweiz nicht auszumachen. Mit Ländern wie Spanien und Frankreich wohl eher. Aber auch dort ist das Klischee des lebensfrohen Südländers, der sich an keine Massnahmen hält, falsch. In Italien zum Beispiel wird die Maske von den Einheimischen sehr diszipliniert getragen, wie Ferienrückkehrer berichten.
Und auch Spanien kennt eine umfassende Maskenpflicht. Dort könnte man gemäss Tanner aber vermuten, dass der sehr harte Lockdown Auswirkungen auf das Verhalten hat, so wie auch in Frankreich. «Die extremen Massnahmen haben zu einem sozialen Schaden geführt.
Nach der Befreiung aus dieser Enge sind die Menschen gerne ausgebrochen und waren nicht mehr diszipliniert, zum Beispiel in den Restaurants», sagt Tanner. Zudem wird die mediterrane Lebensweise, das Familiäre und weniger Individuelle als im Norden, auch seinen Teil beitragen.
«Entscheidend ist das Verhalten und nicht nur die Massnahme als solche», erklärt Tanner. «Die Umsetzung der Massnahmen ist von der Lebenshaltung, vom sozio-ökonomischen und kulturellen Kontext geprägt, in dem die Leute leben. Es wäre erstaunlich, würde man zwischen den Ländern keinen Unterschied sehen».
Wenn die Menschen das begriffen, bemerkten sie, dass sie mit ihrem Verhalten selbst etwas zur Bewältigung der Krise beitragen können. Wenn der Staat und auch die Medien es verpassten, diese Botschaft unter die Menschen zu bringen und auf diese zu hören, würden die Leute jenen zugetrieben, die einfache, aber einseitige Vorstellungen zum Coronavirus verbreiteten.
Die Waadt verschärft Coronamassnahmen
In der Schweiz verschärft die Waadt nun die Coronamassnahmen. Man müsse eingestehen, dass die Rückkehr zur Normalität gefährdet sei, sagt Gorrite. Es gehe nun darum, eine zweite Welle zu verhindern. Der Kanton hat deshalb beschlossen, Discos und Nachtclubs bis Ende Oktober zu schliessen.
In Bars und Restaurants gilt eine Maskenpflicht für die Angestellten sowie für die Gäste, ausser sie sitzen an ihrem Tisch. «Wer sich ein Bier an der Bar holt, kurz telefonieren oder aufs WC geht, der zieht eine Maske an», präzisiert Wirtschaftsminister Philippe Leuba. Unter dem Begriff Nachtclub verstehe man Striptease-Clubs, sagt Leuba. Die Prostitution bleibt erlaubt.
Ebenfalls problematisch seien private Anlässe wie Hochzeiten, Geburtstagsfeste oder Tauffeiern. An solchen Veranstaltungen dürfen neu nur noch 100 Personen teilnehmen. Für grössere, öffentliche Veranstaltungen gibt es ein neues, temporäres Büro, das die Organisatoren beim Schutzkonzept berät.
Die Maskenpflicht gilt zudem in öffentlichen Räumen wie Museen, Kinos und Theatersälen. Gorrite betont, dass man den wirtschaftlichen Schaden minimieren wolle, nachdem die Waadt von manchen Ländern auf die Rote Liste gesetzt wurde. «Wir können das Risiko nicht eingehen, dass unser Kanton isoliert bleibt.»