
Die bescheidenen Helden greifen im Sportklettern nach Gold
«Klettern ist eine der ursprünglichsten Bewegungsformen nebst Laufen und Schwimmen. Jedes Kind will klettern. Das adelt unseren Sport und es war an der Zeit, dass er ins olympische Programm aufgenommen wird.» Wenn Paul Langenkamp vom Sportklettern spricht, das heuer nebst Baseball, Surfen, Skateboarding und Karate erstmals olympisch ist, tönt es wie Poesie. Der Zofinger Kantilehrer ist seit 2016 Berufstrainer und fördert den Sport seit Langem. Seit 2019 betreibt er mit seiner Frau Heidi und seinen Töchtern Noemi und Aina die Kletterhalle Isatis im Aarestädtchen und amtet im nachwuchs- und talentfördernden SAC-Regionalzentrum Sportklettern Aarau-Mittelland als Präsident und Trainer. «Jene, die in Tokio im Sportklettern antreten, sind für mich Helden», sagt der 57-Jährige, «ihre Hingabe, ihre Fähigkeiten, ihre Coolness ist beeindruckend – und dabei bleiben sie so bescheiden.»
«Im Klettern sind alle gleich», bestätigt Aina Langenkamp. Die 18-Jährige erzählt, wie sie an einem Plauschevent der Weltmeisterin und Gesamtweltcup-Siegerin Janja Garnbret begegnete und der Slowenin nach getaner Arbeit einen Klettergriff reinigte. «‹Warte›, sagte Janja zu mir, ‹ich putze dafür deinen hier›. Und wir plauderten locker miteinander.» Was ist es, was die Sportkletterer verbindet, selbst wenn sie an Wettbewerben gegeneinander «kämpfen»? Die Community sei vergleichbar mit jener der Surfer oder Skateboarder. «Wenn jemand einen Sprung zum ersten Mal schafft oder seine Bestzeit knackt, freut das alle. Und es pusht einen, selber noch härter zu trainieren», formuliert es Aina Langenkamp, die zuletzt im Nachwuchs-Europacup überzeugte. Im Training gehe es immer auch darum, zusammen in der Wand eine gute Zeit zu haben.
Drei Disziplinen, sechs Medaillen, 40 Athleten
In Tokio lockt also erstmals olympisches Edelmetall. Wer eine Chance auf eine der drei Medaillen bei den Frauen und bei den Männern haben will, muss so etwas wie der perfekte Athlet sein. Für die Premiere wurde für die je 20 qualifizierten Frauen und Männer ein Kombinationsformat geschaffen. Es setzt sich aus den drei Disziplinen Speed, Bouldern und Lead zusammen. Der Wettkampf vom 3. bis 6. August läuft über zwei Runden: Qualifikation und Finale. Jede Athletin und jeder Athlet muss in allen drei Disziplinen Speed, Bouldern und Lead starten. Einfach umschrieben gilt es im Speed, in möglichst kurzer Zeit dieselbe Route wie die Gegnerin nebenan zu schaffen. Beim Bouldern sind in einer 4,5 m hohen Wand innert vier bis fünf Minuten möglichst viele Aufgaben zu bewältigen. Im Lead siegt, wer innert sechs Minuten in der mindestens 15 m hohen Anlage möglichst hoch hinaufkommt. Die Ergebnisse aus Lead, Bouldern und Speed werden multipliziert. Jener mit der niedrigsten Zahl gewinnt das erste Olympia-Gold im Sportklettern.
«Das Format ist schwierig, viele fokussieren sich eigentlich auf eine Disziplin, die wenigsten sind in drei Bereichen top», betont Aina Langenkamp. Paul Langenkamp sagt: «Aber es ist ein Anfang, das Ziel muss sein, dass einst wie im Kunstturnen Medaillen in der Einzeldisziplin und in der Kombination vergeben werden.» Bereits in Paris 2024 soll es mehr als zwei Medaillensätze geben. Als einzige Schweizerin schaffte die 29-jährige Zürcherin Petra Klingler die Selektion für 2021. Auch Aina Langenkamp möchte einst an Olympischen Spielen teilnehmen, «aber 2024 ist wohl zu früh».
«Wer bei Olympia reüssieren will, muss Profi sein, mindestens 30 Stunden trainieren», schätzt Paul Langenkamp. Es sei nicht so, dass es in der Schweiz zu wenig Leute gebe, die Klettern. 17 Athleten umfasst das Elite-Nationalteam, 31 jenes des Nachwuchses. Das Isatis in Aarburg sei gut frequentiert, der Ausbau in Planung. «Im Freizeitbereich gibt es nach wie vor einen Kletterhype», so Langenkamp, «aber der Wettkampfsport findet zu wenig Beachtung, medial und was das Sponsoring angeht. Grosse Firmen steigen kaum ein.» Das könnte sich durch Olympia ändern. Wenn mehr Menschen die besten Kletterer der Welt am Fernsehen oder auf Youtube sehen, mache es vielleicht Klick, hofft Langenkamp, «es wäre schön, mehr Leute würden erkennen, dass Sportkletterer absolute Höchstleistungen erbringen».
Obwohl das Sportklettern in der Schweiz eine Randsportart ist, führt Paul Langenkamp aus, wie gut die Breiten- und Spitzensportförderung hierzulande sei. Zugpferd ist der Schweizerische Alpen-Club (SAC). Der SAC bezeichnete den Entscheid des Internationalen Olympischen Komitees, Klettern ins Programm zu nehmen, als «wichtigstes Ereignis in der Geschichte der Sportart». Der Weltmeisterschaft 2023 in Bern fiebert man bereits entgegen, zumal dort die Selektionen für die nächsten Olympischen Spiele zum Thema werden. «Bis dahin verirren sich hoffentlich mehr als die bisher maximal 400 Zuschauer an einen Event», hofft Paul Langenkamp. Klettern sei schliesslich «wahnsinnig spannend anzuschauen».
Gehirn, Schuhe und Muskeln sind wichtig
Immer bunter und verrückter werden die Griffe und Wandgestaltungen. Und obwohl selbst die Weltmeisterin weniger als 1700 Franken für ihre Ausrüstung ausgebe, spielt beim «Natursport» Klettern das Material eine Rolle. «Die Kletterschuhe würde ich auf einem Flug auf jeden Fall ins Handgepäck nehmen», sagt Aina Langenkamp, «ich brauche meine perfekt passenden, stinkenden Schuhe.» Sie erzählt von Athletinnen, die am linken Fuss auf den einen Ausrüster vertrauen, am rechten auf einen anderen. Auch die Wahl des haltgebenden Magnesiums für die Hände sei individuell. Was aber ist das Entscheidende beim Klettern? «Mentale Stärke», sagt die Sportkanti-Schülerin, «den Kopf so parat zu haben, dass du immer wieder aufstehen und dich neu in eine Aufgabe denken kannst.» Oder um nochmal poetisch zu werden und es mit den Worten des Sportkletter-Pioniers Wolfgang Güllich (De) zu sagen: «Das Gehirn ist der wichtigste Muskel beim Klettern.»
Exotenbegriffe – ein kleiner Einblick in die Klettersprache
Isolation: Ist seit Corona für viele ein Reizwort, für die Kletterer Alltag. Sie begeben sich auch an den Olympischen Spielen im Wettkampf in einen abgeschotteten Bereich, in dem sie sich vorbereiten und aufwärmen, ihren Gegnern in der Wand aber nicht zusehen können. Erst wenige Minuten vor ihrem Start werden die Athleten einzeln aus der Isolation geholt.
Affenindex: Beim Klettern gilt: je mehr «Affe» man ist, desto grösser sind die Chancen auf einen Olympiasieg. Der Affenindex ist die Differenz zwischen Körpergrösse und Armspannweite. Ist ein Kletterer 1,70 m gross und hat eine Armspannweite von 1,80 m, so beträgt der Affenindex 10 Zentimeter. Je höher dieser Wert ist, umso besser, da eine grosse Spannweite von Vorteil ist.
Deadpoint: Beim dynamischen Klettern schiebt die Athletin den Körper aus Beinen und Hüfte nach oben. Bevor sie zurücksackt, ist sie für einen kurzen Moment scheinbar schwerelos. In diesem «toten Punkt» ist der Moment ideal zum Weitergreifen.
Startpad: Beim Speedklettern muss jeder Athlet eine bestimmte Startposition einnehmen, bei der ein Fuss auf dem Startpad steht. Sobald diese Position verlassen wird und der Fuss den Kontakt zum Pad verliert, wird automatisch die Zeitmessung ausgelöst.