Die Flucht in die Sucht – Heute ist der Aktionstag Alkoholprobleme

«Wenn Alkohol zum Medikament wird»

Heute findet der nationale Aktionstag Alkoholprobleme statt. Das Thema lautet: «Dreimal täglich – wenn Alkohol zum Medikament wird». Problematischer Alkoholkonsum und psychische Problematiken treten gehäuft gemeinsam auf. Eine Erklärung dafür ist, dass Alkohol als eine Art Medikament eingesetzt wird, um Symptome zu lindern. Dadurch verschlimmert sich letztlich oft die Grundproblematik, und das Risiko einer Suchterkrankung erhöht sich. Im Sozial-Beratungszentrum (SoBZ) in Willisau ist eine Infobox installiert, wo weiterführende Informationen bereitgestellt werden. Von allen Suchttherapien hat das SoBZ mit Abstand am meisten Menschen mit einer Alkoholproblematik. Momentan behandelt die Fachstelle rund 55 solcher Personen. (PD)

Heute gefällt es ihr besser ohne Watte. Die Watte war für B. K. der Alkohol. So beschreibt sie das Gefühl, wie es war, alkoholisiert zu sein. In Watte gehüllt, sei man nicht mehr so gestresst, vieles gehe einem am Arsch vorbei, sagt die 53-Jährige aus der Region Willisau. Sie fing mit 30 Jahren an «auf die böse Art» zu trinken. Die Scheidung von ihrem Mann war vorerst das letzte Kapitel der grausamen Nüchternheit. Er war spielsüchtig, habe das ganze Geld verspielt. Sie fing an zu trinken – aus Trotz, wie sie sagt.

Zu Beginn trank sie noch Weisswein, den sie so gerne mochte. «Wenn mir jemand etwas offerierte, trank ich ein Einerli», sagt sie, die jahrelang im Gastgewerbe arbeitete. «Meine Magenschleimhaut entzündete sich aber bei höherem Konsum.» Sie erbrach. Und dann stieg sie um – auf Bier; obwohl sie Bier eigentlich gar nicht so mag. Die Sucht verdrängte den Genuss. «Ein gutes Glas Wein geht mir ziemlich am Arsch vorbei. Nach drei Gläsern spüre ich den Alkohol, dann ist es geil.»

«Was, du hast gesoffen?»

B. K. begann sich schon morgens in Watte zu packen. Einen Pegel anzutrinken, der sie den ganzen Tag schützte, aber nicht vom Funktionieren abhielt. Sie blieb eingebettet im Umfeld, kümmerte sich weiterhin um Kinder, Haushalt und arbeitete auswärts. Sie trank heimlich, wollte ihre Sucht verbergen. Auch ihr jetziger Mann habe anfangs nichts von ihrer Sucht geahnt, sagt B. K. Abends, wenn er von der Arbeit zurückkam, war sie fast wieder nüchtern. An gesellschaftlichen Anlässen trank sie kaum etwas, sie schämte sich für ihre Sucht. Sie kam bereits in Watte gehüllt, hatte vorgetrunken. Als sie nach acht Jahren ihren ersten Entzug machte, hätten sie viele gefragt: «Was, du hast gesoffen?»

Zum Entzug hat sie sich selbst durchgerungen. Bei fünf Litern Bier pro Tag sagte sie sich: Stopp. Sie merkte, dass ihr Magen verrücktspielte, dass sie keinen Appetit mehr hatte. Sie konnte nicht mehr ohne – ein Tag ohne Alkohol war ein nackter Tag, das bekümmerte sie. Ihre Tochter wollte ihr das Enkelkind nicht mehr zum Hüten geben. Nach dem Entzug war sie euphorisch: «Jetzt ist fertig, jetzt trinkst du nichts mehr.» Etwas, das sie heute nicht mehr sagen würde. «Es kann dich auf einmal packen, und dann hast du das Gefühl, du musst wieder trinken», sagt B. K. Das Hirn wolle diesen Flash wieder. Die Suchterinnerung im Hirn, das Belohnungssystem ist hoch, der Schmerz des Entzugs schnell vergessen.

Kaum Folgeschäden

B. K. fing wieder an zu trinken. Sie schämte sich für ihre Schwäche, und für ihre ausweglose Situation: «Wenn du mit Trinken aufhörst, hast du Stress. Wenn du trinkst, hast du auch Stress.» Alkoholismus sei Suizid auf Raten, sagte ihr ein Psychologe einmal. B. K. wollte sich Anfang vierzig umbringen – ohne Raten. Alkohol ist Selbstmedikation. Am Anfang steht meist ein anderes Problem, der Alkohol kann aber zum zentralen Problem werden. Dieser wiederum führt vielfach zu Folgeschäden. Bei B. K. blieb es beim einen Selbstmordversuch. Folgeschäden gibt es keine. Weil sie immer gearbeitet habe und ihr Umfeld zu ihr hielt, vermutet sie selbst. Wer richtig in der Sucht ist, vernachlässigt Arbeit, Umfeld und Gesundheit, sagt Conny Muff von der Sozialberatungsstelle Willisau-Wiggertal, kurz SoBZ. B. K. ist seit ihrem Suizidversuch in Behandlung bei der SoBZ. Nach Entzügen zweiwöchentlich, ansonsten einmal pro Monat.

Positive Entwicklung

Vielleicht funktioniere ich zu gut, sagt sie, vielleicht hätte ich tief fallen müssen, damit sich bei mir etwas verändert hätte, reflektiert B. K. Die Zeiten vor und nach dem Entzug wechselten sich fortan häufiger ab und wurden kürzer. Vor dem Alkohol ist sie nach wie vor nicht gefeit. Wenn sie einen gewissen Stresslevel erreiche, komme sie wieder in den Sog des Alkohols. «Man gerät in einen Strudel, alles dreht sich um den Gedanken an Alkohol. Bis du sagst: Leck mich am Arsch, ich nehm’s halt.» Weder ein Spaziergang, das Streicheln des Hundes noch Ferien könnten sie dann noch ablenken. Auch Muff attestiert B. K. ein extrem hohes Mass an Stresslevel.

B. K. fing letzten Oktober wieder an zu trinken. Vor wenigen Wochen machte sie wieder einen Entzug. Mittlerweile fühle sie sich wohl, auch wenn sie nicht trinke, sagt sie. Dann korrigiert sie sich: «Nein, eigentlich gefällt es mir jetzt besser, wenn ich nicht trinke.» Sie habe keine körperlichen Beschwerden mehr und niemand schaue sie schräg an. Vor dem ersten Entzug hatte sie die Alternative nicht. «Ich wusste nicht mehr, wie es vor dem Trinken war.» Nun sehe sie das Negative klarer. B. K.s Geschichte nehme einen positiven Verlauf, sagt Muff, zumal die Phasen der Abstinenz länger würden als die des Trinkens. B. K. ist sich aber bewusst: «Es kann irgendwas passieren, dann scheisst mich alles an und ich will mich zudröhnen.»

«Die Sucht ist wie eine dritte Person in einer Beziehung. Sie hat eine grosse Kraft und verändert das Zusammensein der beiden Partner.» Conny Muff, Suchttherapeutin beim Sozialberatungszentrum Willisau-Wiggertal. (Bild: zVg)
«Die Sucht ist wie eine dritte Person in einer Beziehung. Sie hat eine grosse Kraft und verändert das Zusammensein der beiden Partner.» Conny Muff, Suchttherapeutin beim Sozialberatungszentrum Willisau-Wiggertal. (Bild: zVg)

 

Wer kommt zu Ihnen auf die Beratungsstelle?

Conny Muff: Den Grossteil machen die Suchtbetroffenen selbst aus. In wenigen Fällen kommen nur die Angehörigen.

Welche Fälle sind das?

Angehörige kommen oft, weil die Sucht eines Partners sehr belastend ist. Mit jemandem zusammenzuwohnen, der eine Abhängigkeitserkrankung hat, ist sehr herausfordernd. In der Beratung der Angehörigen zeigt sich nicht selten, dass sie selber in eine sogenannte Co-Abhängigkeit geraten sind. Die Sucht ist wie eine dritte Person in einer Beziehung. Sie hat eine grosse Kraft und verändert das Zusammensein der beiden Partner. Für manche Angehörige eines suchtbetroffenen Partners fühlt sich das oft so an, als hätte dieser eine Geliebte oder einen Geliebten. Die Aufmerksamkeit ist mehr beim Alkohol als bei der anderen Person.

Was nützt das Angebot Angehörigen?

Es ist wichtig, dass Angehörige lernen, die Schuld nicht auf sich zu nehmen. In der Beratung entwickelt die Klientin oder der Klient für ihn passende Lösungswege, um mit der Situation besser umgehen zu können. Gewisse Menschen sind auch einfach dankbar, dass sie offen reden können. Da die Gemeinden in unserer Region ziemlich klein sind und jeder jeden kennt, haben viele nicht den Mut, offen darüber zu sprechen.

Was heisst denn eigentlich «süchtig»?

Täglich trinken erfüllt noch keine Suchtkriterien. Wer richtig in der Sucht ist, vernachlässigt Arbeit, Umfeld und Gesundheit, und erhöht in der Regel mit der Zeit den Konsum. Betroffene merken erst in der Beratung, wie tief sie in der Sucht stecken. Die Leute kommen, wenn die Negativkonsequenzen nicht mehr auszuhalten sind.

Wie kommt man als Suchtbetroffener wieder auf die richtige Bahn?

Der Königsweg ist sicherlich die dauerhafte Abstinenz. Dennoch ist es wichtig, mit jeder betroffenen Person zu ergründen, was für sie das Richtige ist. Uns ist wichtig, den Betroffenen zu erklären, dass Sucht eine Krankheit ist. Und wie man gesunden kann: beispielsweise mittels stationärem Entzug oder einer ambulanten Behandlung.

Schlägt das an?

Nicht alle Betroffenen können sich vorstellen, abstinent zu leben. Wenn jemand jahrzehntelang getrunken hat, können abstinente Phasen oder eine Reduktion des Alkoholkonsums einen grossen Erfolg darstellen. Wichtig ist, dass es gelingt, die Klienten dort abzuholen, wo sie stehen. Nach einem erfolgreichen Entzug ist die ambulante Nachsorge sehr wichtig. Bei dieser werden zum Beispiel mögliche Rückfälle besprochen. Es ist entscheidend, dass der Klient über das Suchtverlangen und Rückfälle transparent Auskunft gibt. Sucht und Heimlichkeit sind ein Zwillingspaar. Sobald jemand wieder anfängt zu lügen, ist der erste Schritt zurück in die Sucht gemacht.

Kann die Sucht verlagert werden?

Diese Gefahr besteht und darauf legen wir in der Suchttherapie besonderen Wert. Es ist wichtig, mit den Betroffenen zu klären, welche Funktion der Alkohol in ihrem Leben hat, und wie sie diese Funktion selber übernehmen können, ohne zu einer anderen Substanz zu greifen.