
Die Hilferufe aus den Spitälern werden lauter – weshalb die Zahl der freien Intensivbetten trügt
224 Intensivbetten stehen in der Schweiz derzeit leer. Das ergibt laut Zahlen des Bundes eine Reserve von 21 Prozent. Das klingt zuerst einmal kein bisschen dramatisch. Sondern ganz komfortabel.
Doch Hansjakob Furrer, Chefarzt Infektiologie des Inselspitals Bern, betont: «Die Qualität der Behandlung wird nicht durch das Bett, sondern durch das Personal bestimmt. Es wird schwierig, die Qualität bei der Pflege der Schwerkranken beizubehalten, wenn das Personal überlastet ist.» Man könne die Intensivstation nicht nur mit Coronapatienten füllen. Er warnt: «Wir befinden uns auf einem Grat und werden kippen, wenn noch viel mehr Fälle kommen.»
Operationen sind nicht ewig nicht dringend
Die schwerkranken Coronapatienten können nicht wie andere Intensivpatienten nach drei, vier Tagen wieder entlassen werden. Manchmal dauert es Wochen, bis das möglich ist. Deshalb sagt Hansjakob Furrer: «Für uns gibt es keine Wellen, für uns ist es ein Flächenbrand, der nicht gut gelöscht wird. Der Bevölkerung ist das schwierig zu vermitteln.»
Dort kommt es bei sinkenden Fallzahlen sofort zur Entspannung und wieder zu mehr Kontakten. Auf den Intensivstationen der Spitäler kumulieren sich währenddessen die Fälle.
Von dort – aus den Spitälern – werden die Hilferufe gerade immer lauter. Für Nervosität sorgt auch die Entwicklung der letzten Tage. Vielerorts entwickeln sich die Fallzahlen wieder in die falsche Richtung. Dieses Mal geschieht das – anders als zu Beginn der zweiten Welle – auf einem Niveau, das bereits sehr hoch ist.
Bundesrat Alain Berset. © Anthony Anex / KEYSTONE
In einer solchen Situation hat sich die Schweiz noch nie befunden: Das sei «völlig neu» und komme unerwartet, betonte Gesundheitsminister Alain Berset an einer Medienkonferenz vom Montag. Es ist auch: sehr gefährlich. Denn, wenn nun das exponentielle Wachstum wieder einsetzt, die Verdoppelungszeit sich verkürzt, wirkt sich das rasch auf die Zahl der Neuinfektionen aus – und dann, mit Verzögerung, auch auf die Hospitalisierungen.
Derzeit beanspruchen Covid-19-Patienten mehr als die Hälfte der belegten Schweizer Intensivbetten. Das liegt auch daran, dass viele Spitäler die nicht notwendigen Eingriffe zurückgefahren haben. Das Inselspital Bern hat seit Oktober 700 Operationen verschoben; auch viele andere Spitäler verzichten derzeit auf vieles. Das Kantonsspital Aarau etwa hat sein OP-Programm um die Hälfte reduziert. Allerdings kann das nicht auf Dauer so weitergehen. Bundesrat Berset unterstrich, «nicht dringlich» bedeute keineswegs «nicht notwendig».
Coronakranke Ärztin muss zur Arbeit in die Intensivstation
Das Virus ist sehr präsent im Land, und das bekommen sie in den Spitälern auch dort zu spüren, wo keine Coronapatienten liegen. Laut der «NZZ am Sonntag» starben in Zürcher Spitälern Patienten, die aus einem anderen Grund ins Spital kamen und sich dort mit Corona infizierten. Auch am Berner Inselspital haben sich laut Infektiologe Furrer Patienten mit dem Virus angesteckt. Gleiches berichten die Kantonsspitäler im Aargau und in St.Gallen. Andere geben sich bedeckt.
Auch vor Ärzten und Pflegepersonal macht das Virus nicht halt – und das in einer Situation, in der jeder Ausfall ein Problem ist. Das nationale Zentrum für Infektionskrankheiten Swissnoso sieht in seinen Empfehlungen explizit vor, dass bei «relevantem Personalmangel» auch coronainfizierte Ärzte und Pflegefachleute arbeiten dürfen, sofern sie sich 48 Stunden isoliert haben und keine Symptome zeigen. Verschiedene Kantone haben davon schon Gebrauch gemacht.
Das wäre dieses Wochenende beinahe auch einer Intensivmedizinerin aus dem Kanton Bern passiert, die am Sonntagabend das positive Testresultat erhielt. Ihre bevorstehenden Spätdienste konnten kurzfristig durch andere Kollegen abgedeckt werden. Sie sagt: «Ich hätte im schlimmsten Fall trotz positivem Resultat und nach Rücksprache mit der Kantonsärztin zur Arbeit gehen müssen.»
Bisher mussten in ihrem Spital zwar Leute aus der Quarantäne geholt werden, um zu arbeiten, aber keine positiv Getesteten. Ein No-Go ist dieses Szenario aber nicht: «Seit Februar kam es auf der Intensivstation nicht zu nachgewiesenen Ansteckungen.»
Die Schutzmassnahmen seien auf Coronastationen sehr gut. Sie selbst hat sich wohl zu Hause angesteckt. «Da im Moment die Personalsituation extrem angespannt ist, denke ich, dass es sich bei einer weiteren Zunahme der Coronapatienten nicht vermeiden lässt, positiv getestetes Personal auf einer Corona-Intensivstation arbeiten zu lassen.»
Inzwischen hat sie Gliederschmerzen und Fieber, arbeiten kommt nicht in Frage. «Wenn es mir besser geht, wäre es für mich im Notfall denkbar, vorzeitig wieder zu arbeiten.» Denn die Leute auf der Intensivstation seien ausgepowert, das Personal sehr knapp.