
Die Rapperin, die in ihrem Wohnort Nebikon kaum jemand kennt
Ivorrie spielt diesen Freitag am «OltenAir» um 18 Uhr auf der Platzbühne.
Ihr oranges Helly-Hansen-Käppi hat sie tief ins Gesicht gezogen. So, als wollte sie in der Altstadt von Zofingen nicht erkannt werden. Doch eigentlich kennt die Sängerin aus Nebikon hier kaum jemand. Auf dem sozialen Netzwerk Instagram hat Ivorrie indessen mehr Abonnenten, als ihr Wohnort Einwohner hat.
Unter dem Käppi leuchten die blauen Augen, als sie von ihrem grossen Erlebnis im letzten Jahr erzählt: Als eine von drei Schweizerinnen konnte sie für ein paar Tage nach Los Angeles, um dort mit dem US-amerikanischen Popsänger
Jason Derulo den Song Color anlässlich der Fussball-WM aufzunehmen. Damit ging ein Traum in Erfüllung. «Ich wollte immer nach Los Angeles», sagt Ivorrie. «Ich fühle mich in Amerika mehr zu Hause.» Musik machen, gross werden – das sei ihr Ding. Zudem liege ihr die englische Sprache näher. «Vielleicht, weil ich früher oft den US-amerikanischen Fernsehsender MTV geguckt habe.» In Sachen Attitüde und Gestik steht Ivorrie, die Kunstfigur von Michelle Allemann, den Stars aus Übersee in nichts nach.
Nun sitzt sie da, auf einer Parkbank in Zofingen und nippt an einer Cola-Dose. Ein bisschen USA – Schluck für Schluck. Seit ihrem USA-Aufenthalt ist es wieder ruhiger geworden um die 22-Jährige. Sie musste den Interviewtermin vom Morgen auf den Nachmittag verschieben, weil sie ein Vorstellungsgespräch für einen Job als Kellnerin hatte. Ein Brotjob.
Seit zwei Jahren wohnt sie bei ihrem Vater in Nebikon, der sie «mega» unterstützt. Und der ehemalige Techno-Produzent gebe ihr auch Tipps wie: verbiege dich niemals. Dieser Ratschlag ist angekommen. Sie hüte sich vor Starallüren, sagt sie. Da kann ein 2600-Seelen-Dorf wie Nebikon natürlich helfen. Sie geniesse die Ruhe und nutze sie, um ungestört Musik zu machen. Man kennt sie kaum dort. «Am Bahnhof rief mir mal jemand Ivorrie zu.» Eine Ausnahme. Jemand schrieb ihr auf Instagram: «Ah, du wohnst in Nebikon!»
Das mit der Heimat ist so eine Sache: Auf einem ihrer Bilder auf Instagram posiert sie vor dem China Garten in Zürich und fragt beiläufig: «Whats home?», was ist Zuhause? Zwei Abonnentinnen antworten ihr mit Herzen. Auf Instagram sind es vor allem weibliche Fans, die ihr Beifall zollen und sich von ihr inspirieren lassen. Ihre Musik hingegen hörten gemäss Musikstreamingdienst Spotify in etwa gleich viele Männer wie Frauen, sagt sie. Auch wenn es natürlich im machoiden Rap-Genre Leute gebe, die Rapperinnen nicht ernst nehmen würden. Und obwohl sie überzeugte Feministin ist, möchte sie natürlich keine Männer vergraulen. «Ich bin Feministin, aber deswegen hasse ich die Männer nicht, sondern ich setze mich lediglich für die Gleichberechtigung ein.»
Am liebsten würde sie alles selbst produzieren, unabhängig sein, eine starke Frau – wie sie es auch in ihren Songs skandiert. «To achieve all my goals, I do great on my own», singt sie in ihrem jüngsten Song «Kinda True». Also: «All meine Ziele kann ich ganz gut alleine erreichen.» Und wie auch sie sich von starken Musikerinnen wie Kehlani und DaniLeigh inspirieren liess, will sie Frauen motivieren, die Stimme zu erheben – bestenfalls am Mikrofon.
Für ihre Beats ist sie aber aktuell noch von anderen – unter anderem Männern – abhängig. Zurzeit arbeitet Ivorrie an zwei Songs, die sie zu Hause in Nebikon aufnimmt. Der Gesang ist ihr am wichtigsten – die Perfektionistin bastelt gerne an Songs und tüftelt an neuen Stilelementen, bis sie ihr passen. Ihr Song «Straight» von 2018 war beispielsweise wütender Rap mit sogenannten Basslines durchsetzt. Ihr nächster Song soll hingegen ein ruhiger R’n’B-Track werden, für ein späteres Lied möchte sie über einem Afrobeat singen.
Bis es soweit ist, sammelt sie am Wochenende aber noch ein wenig Bühnenerfahrung. Am Freitag spielt sie am Festival OltenAir in Olten. «Ich habe mich noch nicht so angefreundet mit der Bühne, ich bin immer extrem nervös.» Aber sie freue sich, in der Region aufzutreten.
«Uns hat ihr Sound geflasht», sagt Nils Loeffel, Co-Präsident des «OltenAir». Deshalb habe man sie schliesslich vom Rahmenprogramm ins Hauptprogramm genommen. Gerade in Zeiten von «MeToo» und im männerdominierten Rap-Genre seien Frauenstimmen wie diese wichtig.
Nun verabschiedet sich Ivorrie in Richtung Nebikon. Das orange Helly-Hansen-Käppi verschwindet auf dem Zugperron, als ginge die Sonne unter. Verschwunden in der Anonymität. Niemand ruft: Hey, Ivorrie! Nach dem OltenAir sieht das vielleicht anders aus.