Die Reportage vom Gnadenhof: Hier leben 100 gerettete Tiere

(Hanspeter Bärtschi)
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(Hanspeter Bärtschi)
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Der Jakobsweg nach Nordspanien führt durchs Solothurnische Kleinlützel. Zumindest ein Ast dieses Pilgernetzwerkes. Hier schlängelt sich die Strasse durchs Nirgendwo, den Hang ob Kleinlützel hinauf, bis ein einzelnes Bauernhaus auftaucht, das zum grössten Teil aus Dach zu bestehen scheint. Gegacker, Gegrunze, Hufgescharre. Es riecht nach Mist und Stroh. Auf der einen Seite des Weges strecken Schweine die Schnauze durch einen Holzzaun, auf einer anderen heben Pferde die Köpfe über das Gitter eines Laufstalls. Auch Katzen, Hunde, Gänse, Hühner, Schafe und Ziegen bewegen sich auf dem Land hinter dem Haus. Und hinter den Fenster des Bauernhauses leben Schildkröten, Meerschweinchen, Kaninchen und Wellensittiche. Auf dem Hof wartet Martina Blattner, 39, Basler Dialekt und Gummistiefel. «Wir sind eine WG», sagt Blattner beim Rundgang über den Hof, zu dem nebst dem Bauernhaus eine alte Scheune, ein ehemaliger Kuhstall und eine Hektare Weideland gehören. Sowie rund 100 Tiere. Sie leben auf dem Gnadenhof «Hofring 105». Ein Gnadenhof ist ein Betrieb, der alte, verstossene oder nicht leistungsfähige Tiere aufnimmt und pflegt, bis sie sterben. Rund 20 solcher Höfe gibt es in der ganzen Schweiz.

Vom ersten Pony zum Gnadenhof
Im offenen Stall stehen zwei Pferde und vier Maultiere. Hier eines, das als unerwünschte Kreuzung zwischen Esel und Zuchtpony geschlachtet werden sollte, dort ein anderes, das zu gefährlich war, um geritten zu werden, und deshalb ebenfalls zum Schlachter sollte. «Pferde sind auch Nutztiere», sagt Blattner, «oft sind sie einfach Sportgeräte.» Blattner selbst ist früher auch geritten, half als Kind aus einer tierlieben Familie des Öfteren auf einem Bauernhof aus. Bis ein Pony geschlachtet werden sollte. Es war das erste Tier, das Blattner adoptierte. Als dann ihr heutiger Hof in Kleinlützel zu verkaufen war, übernahm ihn Blattner mit Hilfe der Mutter. Das war vor zehn Jahren. Zu zweit bauten die Frauen den alten Hof um, zimmerten Aussengehege, Zäune und Unterstände. Immer mehr Tiere kamen dazu; abgegeben von Besitzern oder deren Angehörigen, freigekauft von Tierfreunden und -schützern. Heute müssen von den täglichen Anfragen für eine neue Unterbringung viele abgelehnt werden. Das liegt am Platz; auf dem «Hofring» müssen wie auf anderen Landwirtschaftsbetrieben auch Tierschutzrichtlinien eingehalten werden. «Das ist manchmal bitter. Wir sind oft das Zünglein an der Waage – entscheiden ob ein Tier weiterlebt oder stirbt», sagt Blattner.

Erklären – nicht missionieren

Tritt Blattner in das Hühnergehege, wird es laut. Rund 50 Hennen kommen eifrig angetrappelt, schlagen mit den Flügeln. Die 39-Jährige nennt jedes beim Namen. Auch die beiden Pfaue, die dahinter in ihrem Gehege leben. Beide aus Zoos, einer war nicht tragbar, weil er aggressiv auf Menschen reagierte. Bei den Hühnern handelt es sich um Legehennen, die älter als 15 Monate sind und damit nicht mehr täglich ein Ei legen. Solche werden in der Schweiz meist vergast. Eine andere Gruppe Hennen wurde kürzlich abgegeben, weil der Landwirt verstorben war. Auf dem Hofring müssen sie keine Eier mehr legen. Blattner und ihr Mann leben vegan. Man wolle hier nicht nur Tiere retten – sondern auch ein Zeichen setzen. «Aber ohne zu missionieren», sagt Blattner. «Wir möchten einfach zeigen, dass diese Lebensweise möglich ist.» Schliesslich wisse man, was der Fleischkonsum mit dem Klima und der Klimawandel mit der Welt mache. «Dieser Konsum ist ein Fass ohne Boden, so können wir nicht weitermachen.»

Das Holz des Hühnerzauns ist teils verfault, und eigentlich bräuchte das Gehege noch ein Netz zum Schutz vor Raubvögeln. Rund 50 000 Franken kostete der Hof und der Unterhalt im vergangenen Jahr, rund die Hälfte kam in Form von Spenden oder Tier-Patenschaften hinein. Die Zahlen schwanken laut Blattner aber stark. Zeitlich werden rund 8 bis 10 Stunden täglich in den Hof investiert, wobei Blattners Mutter nach wie vor mithilft. Blattner selbst arbeitet noch als Grafikerin zu 40 Prozent mit hirnverletzten Menschen, Mann Dominic ist zu 100 Prozent im Aussendienst tätig. Viel Arbeit für 100 Tiere – während in der Schweiz jährlich Millionen andere Nutztiere geschlachtet werden. Das frustriert Blattner aber nicht – es motiviere sie. Man könne der Welt hier den Spiegel vorhalten; zeigen, wie es auch gehe. Manchmal kommen ganze Schulklassen vorbei, Eltern mit ihren Kindern, oder Pilger auf dem Jakobsweg halten beim Hof an.

Therapie für den Menschen

Die Schweine sehen nicht gut, haben dafür eine umso bessere Nase. Sechs leben auf dem Hof, die drei kleineren zusammen in einem Gehege, wo Blattners Stiefel bei jedem Schritt im Matsch einsumpfen. Zwei Minipigs, deren Halter sie nicht mehr haben mochten, ein Säuli, das zu klein für den Mastbetrieb war und verschenkt wurde. Sie staksen auf jeden zu, der das Tor öffnet, schnappen nach allem, was Futter sein könnte – auch nach Notizblöcken und Fotokameras. «Tiere sind unvoreingenommen – sie gehen auf jeden Besucher genau gleich zu», erzählt Blattner. Für viele der freiwilligen Hof-Helfer oder psychisch Erkrankte, die etwa durch die Invalidenversicherung vermittelt werden, sei der Umgang mit Tieren deshalb auch Therapie, erklärt Blattner. «Hier erhält man einen Perspektivenwechsel.» Auch wenn das die Welt vielleicht nicht verändere. «Wir geben im Kleinen unser Bestes.» Und wenn das nur ein paar der Pilger zum Umdenken bewegt – auf dem Jakobsweg durchs Nirgendwo vorbei am Bauernhaus mit dem grossen Dach.

(Hanspeter Bärtschi)
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