Die Schweiz kann es doch: Protokoll des maskierten ersten Morgens im ÖV

5.04 Uhr, Baden, der Tag erwacht, und mit ihm stehen die Pendler auf dem Perron, die ersten Stunden einer nationalen Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr brechen an. Die Wartenden haben schon beinahe alle die Masken montiert, noch nicht einmal in den Zug eingestiegen, bei einigen klebt sie noch am Hals, ein letztes Mal die Luft des Himmels einatmen.

7.38 Uhr, Zürich – Aarau, alle tragen Masken, kein Mensch, der sich der staatlichen Anordnung widersetzt. Visuelle Konformität, plötzlich erzwungene Einheit. Ich als Zwilling, der immer darauf bedacht war, ja nicht gleich auszusehen wie meine Schwester, finde plötzlich Gefallen an diesem Fetzen Uniform. Ich habe mit den anderen Pendlern nichts zu tun, im Grunde, wir mögen wohl nicht die gleichen Velos, vielleicht mögen einige, im Gegensatz zu mir, sogar gekochte Eier.

Pendler am Bahnhof Zürich.

Pendler am Bahnhof Zürich. © Ennio Leanza / Keystone (6. Juli 2020

 

Aber nun, da wir alle Masken tragen, wurden wir über Mitternacht gleicher. Und auch befriedet. Vorbei die Grabenkämpfe an der Maskentrage-Front. Ich bin nicht für Uniformen oder eine gleichgeschaltete Gesellschaft. Und doch macht sich kurz ein friedliches Gefühl in mir breit. Wir haben etwas, was Autofahrer höchstens erfahren, wenn sie alle hupend durch die Strassen fahren – sich ansonsten aber aus ihren Einzelbüchsen auf Distanz recht oft den Stinkefinger zeigen: Eine halbe Stunde Gemeinsamkeit.

Warum lenkten wir nicht früher ein?

Am Sonntag-Abend, sah man nur vereinzelt Menschen, die sich mit Mundschutz in die Öffentlichkeit begaben. Warum halten wir uns nur an Dinge, die uns verordnet wurden? Warum lenkten wir nicht früher ein? Aus gesundem Eigensinn? Aus einem kritischen Bewusstsein heraus? Aus purem Egoismus?

Nun eine neue Einheitlichkeit. Zumindest auf den ersten Blick. Und wohl nur so lange, bis die Stoffmaske kommt, und mit ihr die Möglichkeit, sich wieder abzugrenzen. Durch Masken, die teurer waren als andere, mit Strass besetzt, limitierte Editionen, Öko-Labels. Dann kann sogar etwas wie eine Stoffmaske zum Statussymbol mutieren.

Einige, die bereits Stoff tragen, werden von anderen Passagieren mit Fragen gelöchert, woher hast du sie? Wie viel kostet sie? Es entstehen Gespräche über die Masken, ihre Qualität und Preise. Ein Vater liest seinen Kindern aus einem Bilderbuch vor, seine Tochter reisst ihm immer wieder die Maske runter und sagt: «Papa, ich will dich ganz sehen.» Der Sohn im Teenageralter klagt, die Maske bereite ihm Kopfschmerzen, worauf er beschliesst, die Nase draussen zu lassen, und einige tun es ihm nach. Eine Person hat die Maske unter dem Kinn, isst ihr Frühstück und leckt sich danach ihre Finger.

Wie gut rieche ich wohl, wenn ich küsse?

7.51 Uhr, Winterthur. Die Frau neben mir trägt eine hübsche Blümchenmaske, ich mache ihr durch meine hindurch ein Kompliment. Sie hört mich nicht, schaut nur ein wenig starr auf meinen Mundbereich, der sich bewegt, und bewegt sich selbst wortlos einen Meter weiter weg. Ich frage mich kurz, ob sie in mir eine virologische Gefahr sieht, dann rollt der Zug an, wir steigen alle ein und setzen uns stumm auf unsere Plätze.

Es ist noch ein wenig stiller als sonst immer schon, wenn man zu Stosszeiten durch die Schweiz fährt. Der Mundschutz nimmt mir die Luft. Ich frage mich, wie gut ich wirklich rieche, wenn ich jeweils jemanden küsse, und wie ehrlich diese Kusspartner bisher zu mir waren. Irgendwie fühle ich mich, als hätte mir jemand seine Hand auf den Mund gelegt und nimmt sie jetzt nie wieder weg, wann lohnt es sich jetzt noch wirklich, ein Gespräch zu beginnen?

7.49 Uhr, Solothurn – Bern. Wohl liegt es am Ferienbeginn: Es sitzen viel weniger Pendler im Zug als üblich. Zwei bis drei Meter Abstand sind problemlos möglich. Alle tragen Masken – bis auf einen jungen Mann. Die Kontrolleure kommen, der Mann wühlt in seinem Rucksack, doch er zeigt nur das Billet. Niemand weist ihn zurecht.

Freiwillige verteilen im Bahnhof Bern Masken.

Freiwillige verteilen im Bahnhof Bern Masken. © Peter Klaunzer / Keystone (Bern, 6. Juli 2020

Wer sich widersetzt, riskiert eine Busse

Die Verkehrsbetriebe handhaben schweizweit einheitlich, die VBZ lässt auf Anfrage verlauten: Alles im grünen Bereich, geschätzt 95 Prozent Abdeckung, kaum jemand, der sich nicht an die Regeln hält. Die Kontrolleure haben ein paar Masken dabei, für den Fall, dass jemand keine trägt. Dann wird ausgeteilt und der Mensch wird gebeten, bei der nächsten Haltestelle auszusteigen, falls er keinen Mundschutz tragen will. Widersetzt er sich dem Aussteigen, muss unter Umständen die Polizei gerufen werden. Dann winkt eine Ordnungsbusse.

Die SBB frohlocken schon nach wenigen Stunden ins Reporter-Telefon, praktisch alle würden sich an die Regeln halten, auch dank der breiten medialen Aufarbeitung in den letzten Tagen. Das Pendlerblatt «20 Minuten» titelt heute: «Stopp Corona – setz die Maske auf!»

08.08 Uhr, Bahnhof Baden. Pendler warten auf den Zug nach Zürich. Eine Frau trägt ihre Maske lässig an einem Ohr und schlürft ihren morgendlichen Kaffee. Im Wagon dann, der gut zur Hälfte ausgelastet ist, haben alle eine Maske auf – bis auf einen jungen Mann. Niemand setzt sich neben ihn.

Soll ich eine Szene machen?

Stadtbus in Bern, 8:15 Uhr: Auch hier tragen alle Masken. Eine Mutter will ihrer Tochter, rund 10-jährig, eine Maske anziehen. Sie weigert sich und schreit. Der Buschauffeur erklärt ihr, dass kleinere Kinder keine Maske tragen müssen. Tochter und Mutter sind erleichtert.

Eine Frau trägt in einem Bus in Bern eine Maske.

Eine Frau trägt in einem Bus in Bern eine Maske. © Peter Klaunzer / Keystone (6. Juli 2020

8.45 Uhr, Zürich, mein rechtes Gegenüber trägt keine Maske! Was tun? Wie vor 10 Tagen in Italien mehrmals gesehen, eine Szene machen? Feige warten, bis die Zugbegleitung kommt? Ich lese einen Artikel, schaue auf – und siehe da: Der junge Mann trägt jetzt eine Maske wie alle anderen. Ich fühle, wie die Erleichterung über mich kommt. Mamma Mia, die Schweiz kann es eben doch.

Masken-Selfies fluten die Timeline

In den sozialen Medien fluten inzwischen Masken-Selfies die Timeline, einige Leute schreiben im Internet, sie würden nun ganz zuhause bleiben, Maske tragen, nein danke, ohne mich.

Auf Twitter sammeln sich Meldungen vom sozialen Verhalten der Schweizerinnen und Schweizer, Beobachtungen, Anekdoten, und die Durchsage des Zugchefs auf der Strecke Luzern – Bern:

9.30 Uhr, Aarau, ich steige aus dem Bus, wir reissen uns alle die Masken vom Gesicht, Gehorsam genau so weit, wie staatlich verlangt. Die einen Teile verschwinden in den Handtaschen, andere, viele, die meisten, im nächsten Abfalleimer. Maskenlittering, das neue Alltagsbild? Ich rieche die Luft, spüre den Wind, es riecht nach frisch gemähtem Gras und nach dem Regen, der bald kommt.