
Die Sondermülldeponie hat den neuen Bundesrichter politisiert
Letzte Woche wählte die Vereinigte Bundesversammlung Stephan Hartmann zum neuen Bundesrichter. «Die Wahl hat mich gefreut», sagt der 49-Jährige, zumal er ein Glanzresultat erzielte: 223 von 229 gültigen Stimmen. Und dies portiert von den Grünen. In Bern dabei waren auch seine Frau und die beiden jüngeren Kinder. «Der Älteste, eben in einem Austauschjahr in den USA, hat die Wahl nachts um zwei Uhr im Internet live verfolgt», sagt Hartmann.
Aufgewachsen ist Stephan Hartmann in Kölliken; seine Mutter ist Köllikerin, während sein Vater aus Stetten im Reusstal stammt und auf der Kreispostdirektion in Aarau arbeitete. «Ich bin ein Voll-Aargauer», sagt Hartmann und lacht. Und Kölliken verdankt er auch seine «Politisierung», sein Interesse am Gemeinwesen, genauer: dem Gestank der Sondermülldeponie, den er bereits als Kindergärtler wahrnahm. Später war er Sympathisant der «Bäretatze», einer Gruppe, die später zur Ortspartei der Grünen wurde. «Man hat gesehen, dass die Deponie zum Problem wird; Grundwasserverschmutzung», erinnert er sich an jene Zeit.
Urteile wirken auf das konkrete Leben
«Ich habe nie für ein politisches Amt kandidiert, mich aber für Politik interessiert», sagt Hartmann. Demonstrationen und Protestaktionen freilich sind nicht sein Ding. Er hätte auch Geschichte oder Philosophie studieren können, wählte aber Jus. An diesem Gebiet interessiert ihn die Verbindung von Theorie und Praxis: «Was auf den ersten Blick klar erscheint, stellt sich auf den zweiten häufig als viel komplizierter heraus», sagt er und sieht darin den Reiz der Juristerei: «Urteile haben Auswirkungen auf das konkrete Leben.»
Gut zuhören, gut formulieren, nachvollziehbar erklären, die eigene Meinung vertreten, sie aber, nach Massgabe besserer Argumente, nicht als unverrückbar ansehen: Das hält er nebst fundiertem rechtlichem Fachwissen für Voraussetzungen eines guten Juristen.
Hartmanns Erfahrungen reichen weit. In einer international ausgerichteten Wirtschaftskanzlei in Zürich beschäftigte er sich mit grossen Unternehmen, beispielsweise bei Käufen und Verkäufen. In seiner Tätigkeit mit vier anderen Anwälten in Aarau, in den Jahren 2007 bis 2010, hatte er es mit Privatpersonen und KMU zu tun, Fällen «aus dem täglichen Leben», die der eigenen Erfahrungswelt näher sind. «In Zürich habe ich von Spitzenjuristen viel gelernt; in Aarau lernte ich den Umgang mit Leuten, selber vor Gericht aufzutreten und auch, wenn das Gericht anders entschied, als von mir erwartet, einem Klienten eine Niederlage zu erklären», umreisst er seine Tätigkeit, bevor er 2010 vom Grossen Rat zum Aargauer Oberrichter gewählt wurde. Als erster grüner Oberrichter, zwar erst im zweiten Anlauf, dann aber deutlich mit 121 von 127 Stimmen.
Richter oder Parteivertreter?
Er mag die Aufgabe des Richters mehr als jene des Anklägers oder des Verteidigers. Das habe er bald gemerkt. «Wahrscheinlich eine Frage des Menschentyps», meint Hartmann. Beide Seiten anhören und beurteilen, dann ein Urteil fällen. Als Oberrichter ist er noch Vizepräsident der Aargauer Anwaltskommission, die die Aufsicht über die Anwälte ausübt und Anwaltsprüfungen abnimmt. Zudem ist er Lehrbeauftragter für Privatrecht an der Universität Luzern. «Ich halte zwei Vorlesungen, eine über das Konsumentenvertragsrecht und eine selber entwickelte über den Ablauf des Zivilprozesses», sagt er. Da wird praxisnah durchgespielt, wie ein Prozess konkret vonstattengeht.
Hartmann wird einer von 38 Magistraten der Schweizer Justiz. Weiss er bereits, in welcher Abteilung er tätig sein wird? Öffentlich-rechtliche Abteilung? Zivilrechtliche Abteilung? Sozialrechtliche Abteilung? Nein. Wie beim Bundesrat, den Magistraten der Exekutive, müssen die Letztgewählten nehmen, was übrig bleibt. «Ich sehe es als Chance, das Rechtsgebiet zu wechseln, und freue mich darauf, Neues anzupacken», sagt er.
Richter müssen unabhängig vom Parteibüchlein urteilen, allein dem geltenden Recht verpflichtet. Dennoch: Sie werden von den Parlamenten, sei es auf Kantons-, sei es auf Bundesebene, proportional zur Parteienstärke gewählt. Dies im Gegensatz zur Wahl der Gerichtspräsidenten der Bezirksgerichte, wo, wie eben in Zofingen geschehen, auch Parteilose siegen können. Hartmann sieht in der Proporzwahl durchaus einen Sinn, denn die Bevölkerung soll sich an den Gerichten vertreten wissen. Eine Wahl nach Proporz erhöhe die Legitimität der Richter, und Hartmann weiss, dass er seine Wahl ans Bundesgericht auch den letzten Parlamentswahlen zu verdanken hat, bei denen die Grünen und Grünliberalen vorwärtsmachten. Bei einer Wahl durch das Los fiele das weg.
Ihm ist wohl bewusst, dass man ein solches Amt als Karriereschritt nicht planen kann, denn zu gross sind die Unwägbarkeiten. «Die Konstellation muss stimmen», sagt er, denn es gelten neben der Parteizugehörigkeit Kriterien wie Sprachregion, regionale Herkunft, Geschlecht. Zum Geschlecht: Hartmann kam es zupass, dass vor einer Woche mit der Sozialdemokratin Marianne Ryter (mit Nebengeräuschen) zugleich auch eine Frau gewählt wurde.
Hartmann lebt mit seiner Familie in Suhr. Bleibt das auch so, wenn er nicht mehr mit dem Velo ans Obergericht radeln kann, sondern nach Lausanne reisen muss? «Ich werde Wochenaufenthalter in Lausanne, eine Wiederaufnahme des Studentenlebens wie seinerzeit während des Studiums in Freiburg und Genf», sagt er augenzwinkernd. Er freut sich sichtlich aufs Lernen. Und joggen kann der passionierte Läufer und Mountainbiker an den Gestaden des Genfersees ebenfalls.