Die Stimme der Ungehörten

Sie ist Feministin, Gewerkschafterin, Finanzpolitikerin und war bis vor kurzem Grossrätin. In diesem Amt setzte sich Viviane Hösli (36) ein für Frauen, für Gleichberechtigung, gegen die schwarze Liste für Leute, welche die Krankenkassenrechnung nicht bezahlen können, und für die Gesetzesänderung, die eine Lohndeckelung beim Kader der Aargauischen Kantonalbank (AKB) erlaubte. Bei sich zu Hause in einem Altstadthaus schaut sie zurück auf die acht Jahre Tätigkeit im Kantonsparlament. Im Wohnzimmer liegt auf dem Salontisch die WOZ, auf dem Stubentisch brennt eine Kerze.

Die Zofingerin hat es sich zum Ziel gesetzt, jenen Menschen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden. Jenen Menschen, die sich derzeit nicht darüber beschweren, dass sie nicht in die Ferien fliegen können, sondern nicht wissen, wie sie die Rechnungen bezahlen sollen. «Mir war es immer wichtig, diesen Menschen eine Stimme zu geben, auch wenn das die Mehrheiten im Rat nicht geändert hat», sagt Viviane Hösli. Sie selber sei in einem Umfeld aufgewachsen, wo es an Geld mangelte. «Diese Lebensrealität muss in der Politik vertreten sein.»

Entsprechend enttäuscht war sie ob den intensiven Diskussionen über die Sozialhilfe. «Es stört mich, dass man so lange über Missbrauch diskutierte und kaum ein Wort darüber verlor, was diese Menschen brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen», sagt Hösli. Ebenso habe man im Aargau viel über die schwarze Liste für Prämiensünder gesprochen und dabei kaum das Thema Prämienverbilligung diskutiert. Noch heute sagt sie: «Die schwarze Liste ist das falsche Instrument, es trifft die Falschen.» Viele könnten ihre Prämien beim besten Willen nicht bezahlen. «Zudem gibt es kein gesetzlich festgelegtes Case Management in den Gemeinden. Meiner Meinung nach müssen die Sozialen Dienste den Kontakt mit den Menschen suchen, welche die Prämien nicht bezahlen», findet Hösli. So könnte man Lösungen mit den Schuldnern erarbeiten.

Nach acht Jahren als Grossrätin hatte die SP-Frau Mitte Dezember ihren letzten Tag in diesem Amt. Sie trat im Herbst nicht mehr zur Wahl an, aus zeitlichen Gründen. Beruf und Familie würden derzeit zu viel Zeit beanspruchen, «da kann ich mein Grossratsamt nicht mehr so ausführen, wie ich es gerne möchte», sagt Viviane Hösli. Gut ein Jahr ist es her, an Weihnachten 2019, als sich Viviane Hösli entschloss, als Grossrätin abzutreten. Der Partei bot sie gar ihren vorzeitigen Rücktritt an, damit jemand noch vor den Wahlen nachrutschen könnte. Die Partei lehnte aber ab.

Höslis Sitz verliert die SP an die Grünen

In der Folge verlor die SP Bezirk Zofingen ihren dritten Sitz an die Grünen. Ist die Niederlage also hausgemacht? «Natürlich habe ich mir diesen Gedanken im Vorfeld gemacht. Allerdings muss man sagen, dass die Grünen in einem Hoch sind», sagt Viviane Hösli. «Zudem wollte ich nicht zur Wahl antreten und bald darauf meinen Rücktritt bekannt geben. Das wäre den Wählerinnen und Wählern gegenüber nicht redlich gewesen.» Was für Hösli ein kleiner Trost ist: Mit Alice Sommer von den Grünen übernimmt eine junge Mutter ihren Sitz im Grossen Rat.

Der Entscheid zum Rücktritt fiel Hösli schwer. «Aber ich musste merken, dass es noch immer sehr schwierig ist, Politik, Beruf und Familie zu vereinbaren», sagt sie. «Hier gibt es noch viel zu tun.» Denn aus ihrer Sicht fehlen in der Politik junge Mütter. Und damit ist sie bereits wieder im Politik-Modus. Denn auch nach acht Jahren im Grossen Rat ist ihr die Lust daran nicht vergangen. Sie schliesst auch nicht aus, dass sie dereinst nach Aarau zurückkehren wird. In der Zwischenzeit wird sie sich weiterhin als Zofinger Einwohnerrätin engagieren.

Zu Beginn hemmte sie die Auftrittsangst

Ihren ersten Tag als Grossrätin hatte die gelernte Buchhändlerin am 30. April 2013. Damals war sie gerade frisch Mutter. Unterstützung erhielt sie von ihren Ratskolleginnen und -kollegen, aber auch von ihrer Mentorin Astrid Andermatt. «Diesen Menschen bin ich enorm dankbar», sagt Hösli. Denn: Obwohl sie vorher bereits politisch aktiv war, musste sie doch noch einiges lernen. Zum Beispiel das Reden und Auftreten. Auftrittsangst hemmte sie. «Weil mein Wunsch, Politik zu machen, aber grösser war, pushte ich mich immer wieder aus der Komfortzone.» Damit hatte Hösli besonders Mühe, wie sie unumwunden zugibt. Dass sie das öffentlich anspricht, hat damit zu tun, dass sie anderen – «vor allem Frauen» – Mut zusprechen will. «Frei zu sprechen ist nicht allen in die Wiege gelegt. Aber man kann es sich erarbeiten», sagt sie.

Was sie ebenfalls mitnimmt auf ihren weiteren politischen Weg: Mit viel Detailarbeit könne man etwas erreichen, auch im Kleinen, sagt sie. Medienwirksam sei das halt nicht. Nicht vermissen hingegen werde sie gewisse Voten im Grossratssaal, «die dazu dienten, sich selber zu profilieren und auf Minderheiten herumzuhacken. Das war schwer zu ertragen.»

Grossrats-Serie

Wir porträtieren die abgetretenen Grossrätinnen und Grossräte des Bezirks Zofingen.