
Die Stoiker hatten recht – nicht ich
Ich selbst habe mich nicht an der Rat gehalten, denn er war falsch, ich bitte um Nachsicht. Erstmals in meinem nicht mehr ganz kurzen Leben erblickte ich ganz links eine Neun. Glauben Sie mir, der Schock sass tief. Egal, wie oft ich draufstand – die Neun vorne blieb. Seither existieren gewisse Dinge an fünf bis sechs Tagen die Woche in meinem Leben nicht mehr. Einfach weg. Verschwunden. Existiert nicht mehr. Panaché zum Beispiel. Andere dagegen sehe ich fast täglich. Dinge beispielsweise, die Sie links von diesem Text sehen. Wenn ich morgens mein Hirseflockenmüesli mit Sojajoghurt löffle, treffen mich die mitleidigen Blicke der Kollegen: «Der Arme, geisselt sich nur noch und leidet.» Nach ein paar Wochen strengen Regimes kann ich sagen: Das trifft überhaupt nicht zu. Im Gegenteil ist es so, dass ich noch mehr zu dem geworden bin, was ich schon immer war: ein Geniesser. Ich erfahre nun einfach am eigenen Leib, dass die Stoiker vor rund 2000 Jahren richtig lagen, als sie zur Mässigung rieten: wahrer Genuss liegt zunächst einmal im Verzicht. Mit den lukullischen Genüssen ist es ganz ähnlich wie mit der Liebe: Erst aus der Distanz wird klar, wie gut manche Dinge in unserem Leben sind. Seneca soll sich im alten Rom extra an von Speisen überquellende Tafeln begeben haben, um einfach nur zu schauen. Ich mache es jetzt wie er: Regelmässig schaue ich auf der Website meines Lieblingsrestaurants in Viareggio vorbei, um die Speise- und Weinkarte zu konsultieren. Da bin ich dann im Mai.
✒ Bsetzistei ist die wöchentliche Kolumne der Redaktorinnen und Redaktoren des Zofinger Tagblatts und der Luzerner Nachrichten.