Europa kappt Verbindung zum Vereinigten Königreich: Mutiertes Coronavirus bringt Vorgeschmack des «No Deal»-Brexits

1. Was ist passiert?

In Grossbritannien grassiert eine mutierte Version des Coronavirus. Etliche europäische Länder, darunter die Schweiz, haben die Flugverbindungen ins Vereinigte Königreich gekappt. Frankreich hat auch den Güterverkehr eingestellt, sofern die Ladung von einem Menschen begleitet wird. An den Häfen kommt es zu langen Staus. Supermärkten drohen Lieferengpässe. Die Regierung warnt vor Hamsterkäufen. Und all das passiert 10 Tage, bevor das Land ohne Freihandelsabkommen aus dem EU-Binnenmarkt auszuscheiden droht. Die Isolation ist ein Vorgeschmack, in welche Richtung es bei einem harten «No Deal»-Brexit gehen könnte. 

2. Was ist der Stand der Dinge beim Brexit?

Am Sonntagabend hat das EU-Parlament erklärt, der Abschluss eines Freihandelsabkommens sei in diesem Jahr nicht mehr zu schaffen, so David McAllister, Vorsitzender des Grossbritannien-Ausschusses. Es bleibe nicht mehr genug Zeit, um den Deal vor Ratifizierung angemessen zu prüfen.

3. Ist das jetzt der «No Deal»-Brexit?

Nein. Die Verhandlungen gehen weiter. Wahrscheinlich ist, dass ein Abkommen provisorisch abgeschlossen würde und das EU-Parlament nachträglich seine Zustimmung gibt. Oder das EU-Parlament nimmt seine Drohung zurück und ratifiziert den Deal trotzdem. Nicht ausgeschlossen ist auch, dass Premierminister Boris Johnson wegen der ausserordentlichen Corona-Situation einen notfallmässigen Aufschub verlangt.

4. Warum gibt es keinen Deal? Worüber wird noch gestritten?

Es geht um Fisch und Fischerei-Rechte. Mit rund 0,1 Prozent Anteil am britischen Bruttoinlandprodukt ist die Fischerei volkswirtschaftlich zwar unbedeutend. Aber sie wird stark emotionalisiert. In französischen und britischen Küstenregionen ist die Fischerei wahrscheinlich so identitätsstiftend wie die Alpwirtschaft in Schweizer Berggebieten. Wer die Fischer unter den Bus wirft, hat ein politisches Problem.

Die Fischerei war schon während der Brexit-Kampagne wichtig. Premierminister Boris Johnson zeigte keine Berührungsängste.

Die Fischerei war schon während der Brexit-Kampagne wichtig. Premierminister Boris Johnson zeigte keine Berührungsängste.

© Key

5. Wird man sich einigen können?

Eigentlich wäre es nur ein Zahlenspiel: Wie viel Fisch dürfen europäische Fischer aus den britischen Gewässer ziehen? Aber: Für die Briten verdichtet sich in der Fisch-Frage der Sinn des Brexits: «Take back control» – «Die Kontrolle zurückholen». Es geht symbolhaft um die nationale Souveränität. Premier Boris Johnson steht unter Druck der Brexit-Hardliner seiner eigenen Partei, hier nicht einzuknicken.

6. Wie fix ist die Verhandlungs-Deadline 31. Dezember wirklich?

Sehr fix. Am 31. Dezember endet die Brexit-Übergangsfrist. Das ist eine juristische Tatsache. Es ist eine «harte» Deadline.

Britische Supermärkte wollen noch vor Ablauf der Übergangsfrist ihre Lager füllen. Bild: Lastwagen stauen sich vor dem Fährhafen in Dover (11. Dezember).

Britische Supermärkte wollen noch vor Ablauf der Übergangsfrist ihre Lager füllen. Bild: Lastwagen stauen sich vor dem Fährhafen in Dover (11. Dezember). © Key

7. Was passiert konkret, wenn es keinen Deal gibt?

Zölle: Ohne Freihandelsabkommen kommen ab 1. Januar hohe Zölle und Handelsbeschränkungen. Konsumprodukte, aber auch Medikamente und andere Güter würden schlagartig teurer werden.

Staus: Rund 9000 Lastwagen queren täglich den Ärmelkanal. Durch die Zollkontrollen wird es auf beiden Seiten zu kilometerlangen Staus kommen. Bewohner der Grafschaft Kent haben schon Angst, dass ihre Region zur «Toilette von England» wird, wenn all die wartenden LKW-Fahrer mal pinkeln müssen.

Lebensmittelknappheit: Der Inselstaat Grossbritannien ist auf Lebensmittelimporte angewiesen. Die Versorgungssicherheit war schon ein Argument im Abstimmungskampf zum EU-Beitritt im Jahr 1975. Bereits seit Monaten sind britische Supermärkte daran, ihre Lager aufzufüllen. Trotzdem dürfte es Engpässe geben.

8. Und wenn es doch noch einen Deal gibt, ist dann alles in Ordnung?

Nein. Das Königreich verlässt so oder so die Zollunion und den Binnenmarkt. Auch beim Abschluss eines Freihandelsabkommen müssen Zollformalitäten erledigt werden. Zu Staus wird es ohnehin kommen. Auch an den Flughäfen: Wegen des Endes der Personenfreizügigkeit werden Reisen in und vom Vereinigten Königreich künftig umständlicher werden. Das gilt übrigens auch für britische Katzen und Hunde: Sie verlieren ihren EU-Haustierausweis.

9. Wer würde bei einem «No Deal» mehr verlieren: Grossbritannien oder die EU?

Der «No Deal» würde die kleinere und importabhängige Wirtschaft im Vereinigten Königreich härter treffen als die EU. Experten sprechen von einem «asymmetrischen Schock». Zu den Zahlen gibt es verschiedene Studien, die in ihren Analysen teils deutlich auseinandergehen. Die britische Regierung schätzt, dass ihre Wirtschaft in den nächsten 15 Jahre über 7 Prozent schrumpfen könnte. In der EU geht man etwa minus 1,5 Prozent aus.

City of London: Der Finanzplatz muss um seinen Zugang zum EU-Markt fürchten.

City of London: Der Finanzplatz muss um seinen Zugang zum EU-Markt fürchten.

© Key

10. Kann überhaupt jemand etwas gewinnen?

Die Briten spekulieren darauf, dass sie nach dem Brexit eine Reihe vorteilhafter Handelsabkommen mit der ganzen Welt abschliessen können, zum Beispiel mit den USA. In der EU hoffen Städte wie Paris und Frankfurt darauf, London den Rang als Finanzmetropole abzulaufen. Unter dem Strich bleibt der Brexit aber Verlustgeschäft für alle Beteiligten.

11. Was würde der «No-Deal» für die CH bedeuten?

Nichts. Die Schweiz hat ihr Verhältnis mit dem Vereinigten Königreich bereits geregelt. Die heute in den bilateralen Verträgen mit der EU organisierten Beziehungen werden unter der Strategie «Mind the Gap» weitgehend weitergeführt. Von allgemeinen Wirtschaftsturbulenzen in Europa durch einen «No Deal» bleibt aber natürlich auch die Schweiz nicht verschont.

Die Schweiz hat mit Grossbritannien bereits im Februar 2019 ein Handelsabkommen abgeschlossen. Im Bild: Bundesrat Guy Parmelin (r.) mit Handelsminister Liam Fox.

Die Schweiz hat mit Grossbritannien bereits im Februar 2019 ein Handelsabkommen abgeschlossen. Im Bild: Bundesrat Guy Parmelin (r.) mit Handelsminister Liam Fox. © Key

12. Was, wenn die Briten nochmals abstimmen könnten?

Umfragen zeigen seit ungefähr drei Jahren eine stabile Mehrheit gegen den Brexit. Allerdings: Nicht berücksichtigt sind die rund zehn Prozent, die sich als «unentschlossen» ausgeben. Und: Auch im Vorfeld der Brexit-Abstimmung 2016 deuteten die Umfragen fälschlicherweise auf ein Nein hin.

13. Wie geht es weiter?

Ob es einen Deal gibt oder nicht: Der Brexit dürfte die europäische Politik noch über Jahrzehnte prägen. Die Briten werden sich in einem ständigen Dialog mit der EU befinden und im optimistischen Fall eine Reihe weiterer Abkommen aushandeln. Ähnlich, wie es die Schweiz getan hat. Im pessimistischen Szenario werden sich die EU und das Vereinigte Königreich permanent in den Haaren liegen und wirtschaftlich konkurrieren.