Fakten, Fakten, Fakten

 

Chefredaktor Philippe Pfister über die heilsame Wirkung eines Wechsels in die Aussenperspektive.

Vor ein paar Wochen hat sich der ehemalige deutsche Botschafter Otto Lampe mit einer Liebeserklärung an unser Land von der Schweiz verabschiedet. Hierzulande lebe man noch «auf einer Insel der Glückseligen», schrieb er in der NZZ. Ein derart hohes Mass an politischer Stabilität, zivilgesellschaftlicher Mitverantwortung und wirtschaftlicher Prosperität sei einzigartig. Lampe lobte das «höchst erfolgreiche» Modell Schweiz. «Welches erfolgreiche Land der Welt wird von gerade einmal sieben Ministern regiert?», fragte er. «Ich kenne Länder, die nicht einmal ein Fünftel des Schweizer BIP erwirtschaften und sich 25 Minister leisten.» Und mit vielleicht neidischem Seitenblick lobte Lampe das direktdemokratische System: Das Studium der vielen Abstimmungsbüchlein könne zum Teilzeitjob werden. Mehrmalige Urnengänge pro Jahr auf allen Staatsebenen zu allen möglichen Themen machten aus mündigen Bürgern veritable Souveräne.

Der Text hinterliess bei mir einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits geht so eine Lobeshymne – gerade wenn sie aus dem grossen Kanton im Norden kommt – natürlich wie Honig runter. Anderseits frage ich mich, ob Lampe nicht etwas gar schön malt. Oder schlimmer: Ein Idealbild hinstellt, das so längst nicht der Realität entspricht.

Ein Wechsel in die Aussenperspektive kann immer heilsam sein. Ich habe im letzten Jahr ein paar Länder auf drei Kontinenten besucht und bei jeder Rückkehr unser Land mit anderen Augen gesehen. Lampe hat im Grundsatz recht: Tatsächlich ist unser Land im weltweiten Vergleich eine Art «Insel der Glückseligkeit». Das ist ein schönes Gefühl, birgt aber auch eine Gefahr: Lobeshymnen wie jene von Lampe verführen zu Eigenlob und Schläfrigkeit. Man beginnt auf hohem Niveau zu klagen. Und mal ehrlich: Neigt unsere kollektive Mentalität nicht manchmal ein bisschen dazu, Stabilität und Wohlstand als gottgegeben hinzunehmen? Wie viel Mühe geben wir uns wirklich, die viel gepriesene Freiheit im Land als kostbarstes Gut zu pflegen und zu verteidigen?

Silvester und 1. August haben in der Schweiz bekanntlich Gemeinsamkeiten: Feuerwerk steigt, Gläser klingen. An Silvester ziehen wir so etwas wie eine persönliche Bilanz. Der 1. August wäre eine gute Gelegenheit, als Staatsbürger eine ehrliche Bilanz zu ziehen. Habe ich an allen Abstimmungen teilgenommen? Wie viele Abstimmungsbüchlein habe ich nicht nur durchgeblättert, sondern gelesen? Wenn ich dazu einen Wunsch äussern darf: Lassen Sie sich vom aufgeregten Polit-Gebell und -gebrüll à la Trump in den sozialen Medien nicht beeindrucken. Ignorieren Sie die Hasskommentare frustrierter Mitbürger auf manchen Online-Kanälen. Bleiben Sie einfach bei den Fakten, Fakten, Fakten – und üben Sie Ihre Staatspflichten mit grösstmöglicher Nüchternheit aus. So verteidigen Sie die Freiheit nicht nur am 1. August.

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