FCA-Trainer Stephan Keller nach der Saison: «Das ist zu wenig»

Hinter Ihnen liegt Ihre erste Saison als Cheftrainer einer Profimannschaft. Was bleibt hängen?

Stephan Keller: Meine Vorstellungen und Erwartungen an das neue Amt haben sich bestätigt. Durch meine vorherige Tätigkeit als Assistenztrainer (2017 bis 2020; d. Red.) habe ich das Innenleben des FC Aarau gekannt und wusste, wo ich ansetzen möchte: Bei der totalen Einigkeit aller rund 140 Personen, die im Tagesgeschäft am Erfolg der 1. Mannschaft mitarbeiten. Leider hatten wir wegen Corona bislang noch nicht die Gelegenheit, alle mal zusammenzutrommeln.

Und Ihre sportliche Bilanz?

Wir konnten unsere Spielidee umsetzen und sind, sowohl individuell als auch im Kollektiv, viele Schritte weiter als zu Beginn der Saison. Der Blick auf die Tabelle hingegen nervt mich gewaltig, Rang 5 bedeutet Mittelmass, auch wenn wir gleich viele Punkte haben wie der Dritte. Wir haben in den 36 Spielen gemäss des unabhängigen Datenportals «Instatscout» 269 Torchancen herausgespielt und somit mit Abstand die meisten in der Challenge League. Die 175 zugelassen Torchancen sind der vierttiefste Wert aller zehn Mannschaften. Trotzdem: Die Tabelle lügt nie, es gibt Gründe, warum wir «nur» Fünfter sind.

Nämlich?

Einfach gesagt haben wir zu wenig Tore erzielt und zu viele erhalten. Schauen Sie: Im ersten und im letzten Saisonspiel haben wir jeweils eine tausendprozentige Torchance vergeben, das ist irgendwo symptomatisch. Wir brauchen in beiden Strafräumen mehr Killerinstinkt.

Kann man Eigenschaften wie «Killerinstinkt», «Erfahrung» oder «Cleverness» lernen?

Teils. Etwa durch Neuzugänge mit diesen Qualitäten. Andererseits ist jeder unserer Spieler in der nächsten Saison ein Jahr weiter in seiner Entwicklung. Allerdings sind Spieler, welche diese drei Attribute vereinen, auch im internationalen Fussball ein rares Gut. Unsere Aufgabe ist es, aus unseren Spielern das Maximum herauszuholen und sie zu ihnen aufzuzeigen, was dabei für sie persönlich und für den Verein alles möglich ist.

Wie viel Luft nach oben hat die Mannschaft noch?

Mindestens 20 Prozent. Und um die Antwort auf Ihre nächste Frage vorwegzunehmen: Ich bin optimistisch, dass wir grösstenteils zusammenbleiben. Jeder Spieler, der an sich glaubt, wird hierbleiben.

Wie meinen Sie das?

Keiner von uns hat in der Kombination von Leistung und Resultat in der vergangenen Saison das Maximum geliefert. Jeder, der sich dessen bewusst ist und das Verbesserungspotenzial erkennt, wird in Aarau bleiben. Wären wir aufgestiegen oder wäre einer unserer Stürmer mit 25 Toren Torschützenkönig geworden, wäre die Lage anders. Auch die Interessenten auf dem Markt wären wahrscheinlich attraktiver. Resultate sind in unserem Beruf nun mal die stärkste Währung.

Für die Spieler käme ein Wechsel also zu früh – gilt das auch für den Trainer?

Ich habe mich vertraglich bis 2023 verpflichtet und verschwende keinen Gedanken daran, den FC Aarau früher zu verlassen. Zu 99,9 Prozent werde ich in der nächsten Saison hier Trainer sein.

Die Barrage oder der Cupfinal waren möglich und hätten auch Ihre Person auf das Trainerkarussell gehievt – nerven Sie die verpassten Coups auch deshalb?

Nein. Ich spüre rund um den FC Aarau wieder eine positive Grundstimmung – und das sagt ein kritischer Geist wie ich. Diese Entwicklung hätte eines der von Ihnen genannten Highlights verdient gehabt. Zur Erinnerung: Vor nicht einmal einem Jahr hing in der Fankurve ein Plakat mit den Worten «Mer send Aarau gsi» – nun werden uns einige Fans bei der Auffrischung des Kabinentrakts im Brügglifeld helfen.

Sind Sie rückblickend mit sich und Ihrer Arbeit zufrieden?

Dinge wie die Verbesserung einzelner Spieler und die Implementation einer klaren Spielweise sind gelungen und dazu habe ich meinen Beitrag geleistet. Aber wie die meisten Verantwortungsträger im Sport strebe ich danach, etwas zu gewinnen. In unserem Fall bedeutet das ein Aufstieg oder ein Cupsieg. Darum nochmals: Der fünfte Rang ist zu wenig und nervt mich.

Auf welchen Positionen muss sich der FC Aarau für nächste Saison verstärken?

Vorausgesetzt, dass es keine überstürzten Abgänge gibt: Im zentralen Mittelfeld brauchen wir nach dem Rücktritt von Elsad Zverotic und dem Abgang von Mats Hammerich zwei qualitativ starke Neuzugänge, es braucht eine Entlastung für Olivier Jäckle. Auch in der Verteidigung halten wir Ausschau. Das Kader braucht in der nächsten Saison mehr Breite, zu einem Grossteil wird das aber auch erreicht durch den Fakt, dass die jungen Spieler in den letzten Monaten grosse Fortschritte erzielt haben.

Bedauern Sie den Abgang von Mats Hammerich? Sein Wandel vom Mitläufer zum Stammspieler war so etwas wie Ihr persönliches Projekt.

Wir haben ihm klargemacht, dass wir ihn behalten wollen, aber auf seiner Position ein bis zwei Spieler holen möchten, die in der Hierarchie grundsätzlich vor ihm stehen. In dieser Konstellation hätte unser Kader in der Breite an Qualität gewonnen. Dass er sich gegen diese Rolle entschieden hat, ja das bedaure ich, aber es ist ein mutiger Schritt und ich mag mutige Menschen.

Brauchts neben mehr Qualität auch mehr «Leadership»?

Warum?

Mit Zverotic verliert die Mannschaft den Captain. Und von aussen bestand der Eindruck, dass auf dem Platz nur Olivier Jäckle den Ton angibt.

Wie Sie sagen: Von aussen. Es gibt Spieler, denen sieht man ihre Leaderrolle an. Andere sind Anführer in der Kabine und geniessen grossen Respekt der Mannschaft, ohne dass man sie auf dem Platz dauernd rufen hört. Der FC Aarau hat jahrelang versucht, mit klingenden Namen Erfahrung und Leadership einzukaufen. Aber wie soll einer ein Leader sein, der am Morgen als Letzter kommt und nach dem Training als erster geht? Nur weil ein Spieler vor den Augen des Publikums den Arm zum Kommando erhebt, ist er noch lange kein Leader.

Sondern?

Ein Leader fragt sich immer zuerst, welchen Beitrag er selber leisten kann – und nicht, was die Mitspieler und der Verein für ihn tun müssen. Das kann man lernen und hat nicht direkt mit fussballerischen Qualitäten zu tun.

Das Verhältnis zwischen Häuptlingen und Indianern stimmt also?

Von Raoul Giger, Leon Bergsma, Donat Rrudhani, Kevin Spadanuda und Simon Enzler erwarte ich, dass sie künftig mehr Verantwortung übernehmen. Eher umgekehrt ist es bei Shkelzen Gashi: Er denkt immer zuerst an die Kollegen. Das ist grossartig, noch wichtiger aber ist, dass er uns gesundheitlich in jedem Spiel zur Verfügung steht.

Nach der Eröffnung des Disziplinarverfahrens gegen Sie wollten Sie sich nicht mehr zur Balljungen-Affäre äussern. Jetzt ist das Urteil gesprochen, sie müssen 2000 Franken Busse zahlen. Warum haben Sie sich damals nicht einfach über den Sieg gegen GC gefreut und sind stattdessen unmittelbar nach Schlusspfiff auf den Balljungen zugestürmt?

Es gibt Dinge, die will ich auf die richtige Art und Weise erledigt haben – egal, ob wir gewinnen oder verlieren. Das Schutzkonzept der Liga hat in der vergangenen Saison gar keine klassischen Ballkids vorgesehen. Die Aufgabe des Jungen wäre es stattdessen gewesen, die Bälle auf ein Hütchen am Boden zurückzulegen.

Der Junge, auf den Sie losgestürmt sind, hat den Ball dem GC-Spieler zugeworfen, weil dieser das lautstark forderte. Das kann man einem Elfjährigen doch nicht vorwerfen!

Nein, das kann man nicht. Umso mehr, da dieser Junge an diesem Abend erstmals im Einsatz war. Ich habe mich in dieser Situation unangemessen verhalten, darum habe ich mich auch unmittelbar entschuldigt. Ich stehe zu Fehlern.

Es entstand der Eindruck, dass die Aarauer Ballkids die gegnerischen Spieler benachteiligen sollen.

Wir haben in vielen Auswärtsspielen Nachteile erfahren, weil dort die Bälle nicht ordnungsgemäss rückgeführt wurden. Dies haben wir auch bei der Liga moniert. Ganz allgemein will ich, dass unsere Ballkids ein Gespür entwickeln für das, was auf dem Platz passiert. Unser Stil basiert auf Handlungsschnelligkeit und hohem Rhythmus, darum sollen die Ballkids den Ball unseren Spielern schnell zuspielen. Entgegen des in der Öffentlichkeit dargestellten Bildes sind Verzögerungen absolut tabu. Wir hatten zu keiner Zeit den Hintergedanken, die Gegner zu benachteiligen. Unsere Ballkids sind angewiesen, den Ball korrekt abzugeben.

Die Kritik gegenüber Ihrer Person war heftig, Sie wurden als Rüpel bezeichnet.

Mit oberflächlicher Kritik kann ich umgehen, weil sie mich nicht interessiert. Die Menschen, die nur die eine Szene mitbekommen haben, wissen nicht, was dahintersteckt und dass wir Zeit für unsere Ballkids aufwenden. Und wenn man dann irgendwo anonym einen Kommentar schreiben kann, fühlt sich ein Aussenstehender schnell als alleswissender Moralapostel. Unser Präsident hat mich konstruktiv getadelt. Er bemängelte mein Verhalten sowie meine Kommunikation nach dem GC-Spiel. Ich gebe ihm zu 100 Prozent recht und lerne daraus.

Vier Tage später, nach dem Cup-Halbfinal, kritisieren Sie den Gegner für dessen Zeitspiel und reden vom «kleinen» Luzern. Das hat Ihrer Reputation nicht geholfen.

Die Rollen vor dem Halbfinal waren ja deutlich. Mit Luzern, Servette und St. Gallen die grossen Superligisten und wir, der kleine FC Aarau. Übrigens: Die drei Grossen wollten plötzlich den Cupfinal wegen Kunstrasen und Corona aus Bern in ein anderes Stadion verlegen. In Luzern war die Freude sehr gross, dass man den kleinen FC Aarau zugelost bekam, das haben wir im Vorfeld aus dem Inneren des Vereins erfahren. Ich wollte im Interview nicht den FCL als kleinen Verein bezeichnen, der FCL ist ein Volksklub, der eine grosse Region repräsentiert, das respektiere ich. Ich hatte meine Fragezeichen bei ihrer Spielweise: Die Luzerner wollten Unterbrüchen unseren Rhythmus zu brechen. Das ist ihr gutes Recht, nicht regelwidrig und ihnen auch ein Stück weit gelungen, schliesslich haben sie uns besiegt. Mein Verständnis von einer grossen Mannschaft ist aber etwas anderes – oder haben Sie schon mal gesehen, dass Bayern München den Rhythmus von Union Berlin brechen will? Trotzdem will ich es mir nicht nehmen lassen, dem FC Luzern und der ganzen Innerschweiz zum Cupsieg zu gratulieren.

Wie schalten Sie von der anstrengenden Saison ab?

Mit der Familie in Holland. Am 21. Juni beginnt die Vorbereitung für die nächste Saison – wir haben viel vor!