Franz Hohler: «In der Tschernobyl-Krise hat sich kein Bundesrat an die Menschen gewandt!»
Spitteler-Dokfilm im Open Air Kino Luzern
Am Sonntag, 16. August, 21 Uhr, läuft «Spitteler Reloaded» von Jörg Huwyler. Vor dem 50-minütigen Dokfilm über Carl Spitteler und die heutigen Auseinandersetzungen mit ihm liest Franz Hohler seinen «Olympischen Herbst». Es ist eine Spiegelung von Spittelers Epos «Olympischer Frühling» mit Bezugnahme auf die Eidgenössischen Wahlen vom letzten Herbst. (are)
Wie geht es Ihnen?
Franz Hohler: Überraschend gut. Im März hatte ich für die folgenden Wochen 25 Lesungen geplant. Die Termine sind dann alle wie Dominosteine gepurzelt. Das war natürlich schade, aber es fühlte sich auch an wie eine Zurechtweisung von aussen: Ob ich eigentlich wahnsinnig sei, mit 77 Jahren noch so viele Auftritte zu bestreiten!
Also konnten Sie der Krise auch etwas Positives abgewinnen?
Nun, obwohl es mir persönlich gut geht, fand und finde ich die Situation um mich herum mit der ganzen Ungewissheit schon auch bedrückend. Kommt hinzu, dass ich mich als Senior ebenfalls altersgemäss verhalten soll; etwa für mich einkaufen lassen oder überhaupt möglichst zu Hause bleiben. Da bekommt man schon den Eindruck, man sei nicht mehr ganz am vollen Leben beteiligt. Aber besonders denke ich auch an Menschen in Altersheimen, die noch mehr von Vereinsamung bedroht sind als in normalen Zeiten.
Sie sind ja auch ein steter Beobachter von Politik und Gesellschaft. Was ist Ihnen in den letzten Monaten durch den Kopf gegangen?
Mir gefällt, wie sichtbar unsere Regierung bisher gewesen ist und die Menschen als Bürger dieses Landes sehr konkret angesprochen hat. Wenn ich da vergleiche mit 1986, als sich von Tschernobyl her eine radioaktive Wolke der Schweiz näherte: Da hat sich keiner der Bundesräte an die Menschen gewandt und eine Lagebeurteilung abgegeben. Man wurde mit der Furcht vor dem Unsichtbaren alleine gelassen.
Beurteilen Sie gewisse Aspekte im Krisenmanagement auch negativ?
Ich finde die veröffentlichten Statistiken oft fragwürdig, weil sie den Erhebungskontext nicht präzisieren und daher ein unvollständiges Bild bieten. Und das Hin und Her bei den Masken war meines Erachtens ein echter Lapsus. Genau wie die Diskussionen darüber, ob nun etwa Blumenläden systemrelevant sind oder nicht.
Es gibt Leute, die sagen, dass das Virus als Teil der Natur akzeptiert werden müsse, zumal er eine Konsequenz unserer Lebensweise sei. Sie selber haben ja auch schon Geschichten über Rückeroberungen durch die Natur erzählt.
Natürlich ist das Virus ein Teil der Natur, und die Natur ist stärker als wir. Doch was sollen wir nun daraus schliessen? Dass wir einfach eine Durchseuchung über uns ergehen lassen sollen?
Was meinen Sie selber? Sollen wir uns nicht gegen das Virus wehren?
Doch! Und so, wie ich mich in den letzten Jahren immer gegen Grippe impfen liess, würde ich mich wohl auch gegen Covid-19 impfen lassen, sobald ein getesteter Impfstoff vorliegt. Aber wir müssen auch aus der Krise lernen, etwa was die Globalisierung betrifft.
Konkret?
Zum Beispiel beziehen wir Waren von irgendwoher und mit absurden Lieferketten, nur weil wir sie möglichst günstig wollen. Dabei sind diese tieferen Preise fast immer mit sozialen Unterschieden und Ausbeutung verbunden. Wir fliegen zu viel. Unsere Arbeitswege sind zu lang. Vielleicht hält sich das Bewusstsein, dass man gewisse Konferenzen auch per Video abhalten kann. Oder dass bei vielen Jobs Homeoffice möglich ist. Als Autor bin ich selber natürlich ohnehin Homeoffice gewöhnt.
Am Sonntag treten Sie im Open Air Kino Luzern auf: Ihr erster Auftritt seit der Coronakrise. Gezeigt wird ein Dokfilm über den Schweizer Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler. Sie präsentieren davor ein Bühnenprogramm mit Texten aus Spittelers «Olympischer Frühling». Wie ist es dazu gekommen?
Ich bekam letztes Jahr eine Anfrage des Dichtermuseums Liestal zum 100. Jahrestag des Nobelpreises. Und da die übrigen angefragten Autorinnen und Autoren sich mit Spittelers Rede «Unser Schweizer Standpunkt» befassten, beschloss ich, in das rund 600-seitige Versepos «Olympischer Frühling» einzutauchen. Daraus machte ich eine Lesung, in welcher ich an zwei Pulten abwechslungsweise als Carl Spitteler aus dem Epos vortrage und als Franz Hohler mit eigenen Texten einen Widerhall gebe. Parodistisch, aber auch inspiriert durch die letzten eidgenössischen Wahlen.
Wo sehen Sie den Zusammenhang?
Im «Olympischen Frühling» geht es ja um einen Umsturz, um die Entmachtung der etablierten Götter. Und bei den Wahlen gab es – natürlich erst im kleinen Stil – auch einen solchen.
Aber Hand aufs Herz: Diesen sperrigen Text kann man heute fast nicht mehr lesen.
Nun ja, einfach ist dieser Text nicht. Und normalerweise entscheide ich bei einem Buch nach 30 Seiten, ob ich weiterlese oder nicht. Aber hier hatte ich mir die Lektüre vorgenommen und zog sie dann durch. Wenn man sich darauf einlässt, taucht man in eine ganz eigene Welt ein und kann auch einen Genuss daraus ziehen. Zumal das Epos durchaus literarische Qualität und eine ordentliche Portion Witz hat. Aber es verlangt einem schon einiges ab, und da wir eher eine Gesellschaft von Wellness-Lesern geworden sind, ist uns so etwas leider schnell einmal zu viel.
Aber eine wirkliche Aktualität ist darin doch eher schwer zu finden?
Es kommt drauf an, was Sie unter Aktualität verstehen. Falls es etwas sein soll, das spezifisch für unsere Gegenwart gilt, kann ein Text, der vor weit über 100 Jahren verfasst worden ist, das schwerlich leisten. Aber Aktualität kann ja auch zeitlos sein. Nehmen wir zum Beispiel das Märchen vom Froschkönig.
Das finde ich toll. Und meine kleine Tochter ebenfalls, sie will es immer wieder von mir erzählt haben.
Welche Version erzählen Sie ihr denn? Diejenige, wo der Frosch geküsst wird? Oder diejenige, wo der Frosch an die Wand geworfen wird?
Die mit der Wand.
Sehr gut! Da steckt doch zeitlose Aktualität drin. Die Königstochter rebelliert gegen den Vater!
Geht es nicht eher darum, dass sie ihre Versprechungen gegenüber dem Frosch zu halten hat? Und dass der König sie darauf hinweist.
Ja, schon. Aber ein Happy End gibt es erst, als sie die Order des Vaters schliesslich missachtet, ihren eigenen Gefühlen folgt und den Frosch an die Wand wirft. Und damit den Prinzen erlöst. Aber zurück zu Spitteler: Man kann den «Olympischen Frühling» vergleichen mit «Herr der Ringe» von Tolkien, einem ebenso weltfernen Werk: Man muss sich in diese komplett andere Welt hineinwagen. Und genau solche Welten werden doch durch Kultur geschaffen.