Gewaltige Versuchsanordnung zeigt: Veränderung ist nicht nur theoretisch möglich

Die Pandemie verändert die Welt. Darin gehen wohl die meisten mit mir einig. Doch verändert sie uns nachhaltig? Lernen wir etwas daraus? Optimisten hoffen es, Pessimisten belächeln es.

Immerhin verändert mich die Krise insofern, dass ich vor knapp zwei Wochen wieder mal Zeit fand, die SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie» zu schauen. Moderatorin Barbara Bleisch interviewte den deutschen Soziologen und Sozialpsychologen Harald Welzer, der über die aktuellen Veränderungen der Gesellschaft sprach und sich die Frage stellt, ob wir aus der Corona-Krise etwas für die Zukunft mitnehmen.

Welzer behauptet, die Corona-Krise habe «die Globalisierung entzaubert». Er nennt die aktuelle Situation eine «gewaltige Versuchsanordnung» und «eine gigantisch beschleunigte Veränderung der Gesellschaft ohne Bremsweg». Denn normalerweise veränderten sich Gesellschaften sehr träge, vor allem dann, wenn sie funktionierten.

Und unsere Gesellschaft hat funktioniert! Ach, wie schön es war, die spanische Freundin für zwei Tage in Barcelona zu besuchen – für lappige 20 Franken – um danach für weitere zwei Tage auf Kreta die Seele baumeln zu lassen. Oder sich ein Paar Ohrringe über Ali Express aus China nach Hause liefern zu lassen. Oder mit dem SUV drei Kilometer ins Fitnessstudio zu fahren, damit man sich dort für zehn Kilometer aufs Velo schwingen kann. Erdbeeren zum Weihnachtsessen? Nichts lieber als das!

Sie merken, ich komme ein wenig in Rage, wenn ich solche Situationen beschreibe. Hauptsächlich aus dem Grund, weil sich einige Menschen jetzt wahrscheinlich fragen: Wo liegt das Problem? Das Flugzeug fliegt sowieso und die Erdbeeren sind ja schon in der Migros.

Doch auch diese Leute befinden sich, wie ich und alle anderen, in einer Versuchsanordnung, die uns zeigt, wie man umweltverträglich und nachhaltig leben könnte – und das nicht nur theoretisch. Ferien ohne Flugzeug geht nicht? Welch Schwachsinn! Dieser Sommer wird allen Dauerfliegern beweisen, dass Urlaub mit dem Zug, dem Auto, dem Velo oder zu Fuss gar noch attraktiver sein kann als die Zeit am Strand mit rüden, dickbäuchigen Amerikanern im All-inclusive-Hotel in der Dominikanischen Republik.

Ich kenne die Statistiken und weiss, dass der Co-Ausstoss der Flugzeuge nur einen kleinen Bruchteil des globalen Co -Ausstosses ausmacht. Doch ein Flug verursacht individuell betrachtet in sehr kurzer Zeit so viele Emissionen wie keine andere menschliche Aktivität. Ein Flug ist also der grosse Player, wenn es um den persönlichen Fussabdruck geht. Und dort gilt es, zu handeln. Deshalb haben alle, die nach Corona bereits wieder ihren Flug gebucht haben – allenfalls sogar deren zwei, weil sie ja jetzt mehrere Wochen nicht geflogen sind – nichts aus der Krise gelernt.