
Grossbritannien rätselt: Neue Freiheiten, weniger Infektionen – wie geht das zusammen?
Kaum hat die konservative Regierung von Boris Johnson alle Covid-Beschränkungen aufgehoben, sinkt plötzlich die Zahl der positiv Getesteten – binnen Wochenfrist immerhin um einen Drittel. Epidemiologen bleiben skeptisch, die Regierung warnt vor voreiliger Nachlässigkeit. «Bitte bleiben Sie weiterhin sehr vorsichtig», appellierte der Premierminister am Mittwoch an die Bevölkerung.
Seit dem vorletzten Öffnungsschritt Mitte Mai, als Pubs und Restaurants auch im Innenraum wieder öffnen durften, war die Infektionsrate scheinbar unaufhaltsam angestiegen. Mit der entsprechenden Verzögerung galt dies auch für die Zahl von Patienten, die einer Behandlung im Spital bedürfen, sowie für die Coronatoten.
Superspreader-Events wie die EM-Fussballspiele in Glasgow und im Londoner Wembley-Stadion leisteten ihren Beitrag zur neuen Welle. Kopfschüttelnd, teils auch mit scharfer Kritik begleiteten führende Wissenschafter das Vorgehen der Regierung. Bei den Halbfinalspielen und beim Final vor drei Wochen waren bis zu 60’000 Fans im Stadion selbst erlaubt, zusätzlich feierten (und randalierten) Hunderttausende rund um Wembley. Professor Neil Ferguson, ein prominentes Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Regierung, hielt in diesem Sommer bis zu 200’000 tägliche Neuinfektionen für möglich.

Neun von zehn Personen haben Antikörper
Stattdessen könnte der Peak von knapp 55’000 bereits zehn Tage zurückliegen. Noch am Mittwoch vergangener Woche lag dem Gesundheitsministerium zufolge die Inzidenz pro 100’000 Einwohner bei 472, was einen Anstieg binnen Wochenfrist um fast 36 Prozent bedeutete. Seither aber ein Rückgang um 31 Prozent – wie kommt’s?
Weniger Tests, lautet die naheliegende, aber nicht ausreichende Antwort. Denn deren Zahl ging über die Woche zwar zurück, aber nur um 14 Prozent. Als weitere Faktoren nennen Experten das Ende des Schuljahres und die Reiselust vieler Briten. Allein am vergangenen Samstag verliess eine halbe Million Menschen das Land.
Zudem haben einer Schätzung des Statistikamtes ONS zufolge 92 Prozent der Erwachsenen in England und Wales Antikörper gegen das Virus im Blut. Zwar mag von der «Herdenimmunität» kaum noch jemand reden, weil der Begriff schmerzhafte Erinnerungen an die Regierungspannen im März und September 2020 weckt, als viel zu spät dringend nötige Lockdowns verhängt wurden. Doch der Effekt scheint mehr und mehr realistisch zu sein – ironischerweise gespeist von Ereignissen wie der Fussball-EM, weil durch die massenhaften Ansteckungen viele Zehntausende zusätzlich Immunität bekamen. Dass dies «so eine grosse Wirkung haben würden wie das offenbar der Fall war», sagt Medizinprofessor Paul Hunter, «wäre mir nie in den Sinn gekommen».
Vorsicht bleibt angezeigt, schliesslich liegt die Aufhebung von Maskenpflicht und Mindestabstand erst eine gute Woche zurück. Zudem bleibt deren Auswirkung offenbar begrenzt: Restaurant- und Ladenbetreiber berichten vielerorts, dass zumindest ältere Briten über 40 an den monatelang eingeübten Verhaltensweisen festhalten und in Geschäften oder auf dem Weg zu ihrem Tisch in den Gaststätten weiterhin Mund-Nasenschutz tragen. In Bussen und Bahnen wird dies ohnehin weiter empfohlen, in der Londoner U-Bahn ist es verpflichtend.
Warnung vor voreiligen Schlüssen
Ob der erfreuliche Abwärtstrend von Dauer ist? Wissenschaftler wie James Naismith von der Uni Oxford warnen vor voreiligen Schlüssen: Erst gegen Ende der Woche werde sich zeigen, inwieweit die neue Freiheit Auswirkungen auf die Infektionsrate haben wird. Hoch genug liegt die Inzidenz immer noch, am Mittwoch immerhin bei 417 pro 100’000. Steigend bleiben einstweilen auch die Zahlen für Covid-Patienten im Spital und die Toten, zuletzt starben im Wochendurchschnitt 138 Menschen täglich.