
Hammer-Methode gegen Zeitmangel
Zu den dringlichsten Problemen unserer digitalisierten Wohlstandsgesellschaft gehören chronischer Zeitmangel und Dauerstress. Zumindest glauben wir das, weil es uns von allen Seiten gebetsmühlenartig eingetrichtert wird. Dabei ist es unmöglich, keine Zeit zu haben – wir alle haben jeden Tag gleich viel Zeit zur Verfügung, aber offenbar nutzen immer mehr Menschen sie nicht für das, was ihnen wichtig ist, will heissen: für sich selbst. Keine Zeit zu haben gehört heute zum guten Ton, genau wie das ständige Gejammer darüber. Wer öffentlich zugibt, kaum etwas los und deshalb alle Zeit der Welt zu haben, gerät bald unter Verdacht, faul, asozial oder gleich beides zu sein.
Die Zauberworte der Stunde heissen für moderne Menschen deshalb «Entschleunigung» und «Achtsamkeit». Damit lässt sich ein Haufen Kohle verdienen, das zeigt allein die verstörend grosse Menge an Sachbüchern zu diesen Themen, die wahrscheinlich nie gelesen (keine Zeit!), sondern lediglich in guter Absicht gekauft werden. Ich habe keines davon gelesen, sondern ohne Zeitdruck darüber nachgedacht, warum wir das Gefühl haben, unter Zeitmangel zu leiden. Die Tage sind meines Wissens gleich lang wie vor 46 Jahren, als ich geboren wurde. Die durchschnittliche Wochen-Arbeitszeit hingegen ist in derselben Zeitspanne von über 45 Stunden auf unter 42 gesunken. Brauchen wir vielleicht mehr Zeit zum Kochen? Zum Einkaufen? Wohl eher nicht, schliesslich ist das Angebot im Convenience-Food-Bereich in den letzten Jahrzehnten geradezu explodiert. Treiben wir mehr Sport? Schwer zu beurteilen für einen Nicht-Sportler. Kümmern wir uns intensiver um unseren Nachwuchs? Vielleicht, wobei «überbehüten» wohl der treffendere Ausdruck wäre als «kümmern». Brauchen wir mehr Zeit fürs Zeitunglesen als früher? Kleiner Scherz, entschuldigen Sie.
Nach reiflicher Überlegung vermute ich: Die Keine-Zeit-Problematik ist – wie so oft – viel weniger komplex und die Lösung des Problems deshalb auch viel einfacher und günstiger, als Sie vielleicht vermuten. Sie brauchen weder Sachbücher zu lesen noch Achtsamkeits-Workshops zu besuchen. Die Lösung geht so: Besorgen Sie sich einen Hammer, je schwerer, desto besser. Holen Sie Ihr Smartphone aus der Tasche. Entfernen Sie die Schutzhülle. Legen Sie das Ding auf den Altar, pardon: aufs Küchenbrett. Seien Sie unbesorgt, auch wenn Sie die Hälfte Ihrer Hirnfunktionen in dieses flache Ding ausgelagert haben, es als Teil von sich selber begreifen und sich einbilden, ein Leben ohne dieses sei absolut unmöglich: Sie werden absolut keine körperlichen Schmerzen spüren, wenn Sie nun den Hammer mit Schwung darauf niedersausen lassen. So, jetzt haben Sie schlagartig das, was sich angeblich alle wünschen: einen Haufen Zeit. Die Frage ist nur: wie lange wird es dauern, bis Sie lieber wieder drei Stunden pro Tag am Smartphone verplempern und über Zeitmangel jammern möchten, als mit der grauenhaften Leere zu leben, die eintreten kann, wenn plötzlich jegliche Ablenkung von sich selbst wegfällt?